Unendliche Leere

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dj79 Avatar

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Adèle führt gemeinsam im ihrem Ehemann, einem Chirurgen, und ihrem kleinen Sohn ein luxuriöses Leben in einem schicken Pariser Viertel. Sie selbst arbeitet als Journalistin bei einer Pariser Tageszeitung. Dieses Leben betrachtend, lässt sich zunächst schwer nachvollziehen, warum Adèle so unglücklich und hoffnungslos wirkt. Dennoch spürt man eine unendliche Leere, die nicht recht zu fassen ist. Immer, wenn Adèle nicht gerade aus ihrem „langweiligen“ Leben ausbricht, ist sie regelrecht lustlos in der Abwicklung ihrer Angelegenheiten. Im Job beginnt sie beispielsweise erst kurz vor den Abgabeterminen mit der Recherche für ihre Artikel. Ihren Sohn lässt sie so oft es geht in der Obhut von anderen, um für sich selbst Freiraum zu schaffen.

Die Leere insgesamt versucht Adèle, mit spontanen sexuellen Handlungen, vornehmlich mit Fremden, auszufüllen. Sie begibt sich auf die Jagd, verführt scheinbar beliebige Männer, doch schon während des eigentlichen Aktes ist der Reiz oft verflogen. Die Langeweile macht sich wieder breit und so bleibt Adèles Leben, wie die Seiten im Buch, wenn ein neues, aber unbetiteltes Kapitel beginnt, leer.

Erst nach und nach erkennt man zwischen den Zeilen, die erdrückende Last, die auf Adèles Schultern ruht. Wie genau diese ausgeprägt ist, obliegt der Interpretation des Lesers. Beim Lesen stolpert man über Erinnerungsfetzen aus Adèles Kindheit, über Ereignisse im Zusammenhang mit ihrem Job, über ihre Gedanken im Rahmen ihrer sozialen Kontakte, über Essgewohnheiten und Weiteres. Insgesamt entsteht ein Bild von oder eine Sichtweise zu Adèle, das/die je nach Erfahrungsschatz des Lesers unterschiedliche Schwerpunkte enthalten kann.

Ich mag Romane besonders gern, die mir nicht die ganze Story haarklein vorkauen, sondern genau diese Spielräume zum Weiterdenken lassen. Leïla Slimani spricht hier mutig, klar und ungeschönt ein Alltagsproblem „höherer“ Schichten unserer heutigen Wohlstandsgesellschaft an. Sie bringt die Frage nach den Parametern, die in unserer heutigen Konsumblase das Glück bestimmen, nicht genau bzw. überhaupt nicht auf den Punkt, sondern kreist vielmehr, wie die Betroffenen selbst um den Zwiespalt, zwischen den schier unendlichen Möglichkeiten entscheiden zu müssen. Mir hat das gefallen. Ich konnte Adèle gut verstehen, ihre Gefühlslage nachvollziehen, obwohl die Art ihres Ausbruchs aus dem Alltag so gar nicht in mein Weltbild passt.

Fazit: Leïla Slimanis Roman ist sehr empfehlenswert. Er ist aufwühlend, zum Teil unfassbar, dennoch realistisch vorstellbar.