Vom Eingesperrtsein

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wolke44 Avatar

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Das ist ganz wunderbares Buch!

Wie froh ich bin, dass ich es gelesen habe - ich hätte sonst etwas Gutes verpasst.

Das Buch scheint auf den ersten Blick hochgradig sexuell zu sein - es gibt quasi auf jeder Seite Sex. Doch es erzählt im Grunde keine Geschichte der Leidenschaft, keine Liebegeschichte. Es erzählt die Geschichte eines weiblichen Eingesperrtseins.

Wie kann man einen Roman schreiben, in dem man über das Bild der Sex-Sucht etwas anderes erzählen möchte, das aber ebenso über Grenzen geht? So wie Leila Slimani es tut: in einer wunderbar unterkühlten Sprache.

Im Grunde ist das ein Buch, das man in einem einzigen Satz inhaltlich zusammenfassen könnte, die Story scheint also auf den ersten Blick dünn. Aber es geht im Grunde auch nicht um die Story - es geht um einen Zustand, den die Autorin zu zeigen versucht.

Sie erzählt von einem extremen (Lebens-)Hunger, der nicht durch Selbstverwirklichung erfüllt wird und sich andere "Füllung" sucht.
Dabei hätte es übrigens nicht die Sexsucht sein brauchen, wie hier. Die Autorin hätte auch Drogen, Alkohol, Fresssucht, Pornografie, Spielsucht für ihre Protagonistin wählen können - das hätte alles genauso gut funktioniert und dasselbe erzählen können. Sie wählt die Sexsucht, das macht es natürlich etwas "pikanter", damit zu einem Roman, den wir wahrscheinlich als "typisch französich" bezeichnen würden.

Leila Slimani erzählt in diesem Buch n i c h t über eine Frau, die sexuell selbstbestimmt ihre Lover wählt, um sich damit zu befrieden - sie erzählt von einer wilden Suche nach etwas, was die Protagonistin, nicht richtig fassen kann und - aus Verzweiflung - im Sex zu finden versucht. Sie bleibt immer unbefriedigt, denn es ist eben nicht diese "Füllung", die sie braucht.

"All dies zu verlieren" zeigt und eine Frau, die unter ihrer inneren (geistigen & emotionalen) Unausgefülltheit leidet, unter Verantwortungslosigkeit, unter einem falschen Lebensweg, den sie selbst gewählt hat, um "dazuzugehören", es zeigt damit auch das Eingesperrtsein in einer Geschlechterrolle.

Ich habe dieses Buch sehr genossen. Es hat mich in seiner stillen Art des Erzählens an Marlen Haushofers "Die Wand" erinnert - auch eine scheinbar kleine Geschichte, die aber ein großes feministisches Thema trägt.

Warum trotzdem nur vier Punkte?
Ich bin sehr verwöhnt durch "Uns gehört die Nacht" von Jardine Libaire, das zwar inhaltlich viel schwächer ist als "All dies zu verlieren", aber sprachlich eine Bombe. Ich hätte mir ein wenig mehr Sprachkraft gewünscht - dann wäre dieses Buch (für mich) perfekt gewesen.

So aber ist für mich es ein wirklich guter und sehr zu empfehlender Roman!

Danke, dass ich ihn lesen und rezensieren durfte.