Heilige für alle Gelegenheiten

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Der amerikanische Familienroman ist nicht totzukriegen. Unzählige davon wurden und werden verfasst und es ist stets überraschend, dass sie bei allen Ähnlich- und Gemeinsamkeiten doch auch immer wieder einen eigenen Ton treffen, andere Blickpunkte setzen, andere Themen fokussieren, andere Stimmungslagen transportieren. Man braucht nicht erst den berühmten Satz von Tolstoi zu bemühen, um zu festzustellen, dass die Familie als Keimzelle, aus der wir mehr oder weniger glücklich alle abstammen, ein unerschöpfliches Motiv darstellt, neben den allgemeingültigen auch die ganz spezifischen Bedingungen der menschlichen Existenz und des Miteinanders immer wieder neu zu thematisieren vermag. Ich habe ein ganz großes Faible dafür.
J. Courtney Sullivan hat bereits in ihrem ersten Roman „Sommer in Maine“ eine Familie in den Mittelpunkt gestellt. Ihr zweiter Roman „Die Verlobungen“ wurde episodischer, rückte thematisch ein wenig zur Seite, ging es doch um die den meisten Familien vorangehenden Paarbildungen. Mir gefielen beide Bücher ausgezeichnet. Der zunächst leicht erscheinende Ton der Autorin, die handwerklich hervorragend schreibt, die Erzählung schürft nach und nach immer tiefer, so dass neben einer unterhaltsamen und berührenden Lektüre immer noch dieses gewisse „Mehr“ bleibt, das einen Roman auch länger im Gedächtnis hält.
So auch in ihrem neuen Roman „All die Jahre“, der sich wieder nah an ihren Erstling fügt. Auch hier steht eine Familie im Zentrum, sind es die Frauengestalten, die ihn in erster Linie prägen.
Es beginnt mit einem Verkehrsunfall im Jahr 2009. Noras ältester Sohn Patrick ist in betrunkenem Zustand auf dem kurzen Weg von seiner Kneipe nach Hause verunglückt. Sein Tod und die bevorstehende Beerdigung bilden die Gegenwartsebene, von der aus die Gedanken der Familienmitglieder - neben Nora gibt es noch die Geschwister John, Bridget und Brian und die als Nonne im Kloster lebende Schwester Noras, Theresa - in die Vergangenheit schweifen.
Nora erinnert sich an ihre Kindheit in Irland, an die unglaubliche Armut, aus der, wer konnte, in eine bessere Zukunft nach Amerika aufbrach. Aber auch die Anpassungsschwierigkeiten in der Neuen Welt. So auch Nora und ihr Verlobter Charlie, der Nachbarsjunge, den sie zwar nicht liebt, der ihr aber eine Zukunft nah an ihrem Zuhause zu versprechen schien. Nun wird ihr dieses Zuhause unsanft entrissen, es soll ja nur vorübergehend sein, bis genug Geld da ist für eine glorreiche Heimkehr - der falsche Traum schon so mancher Migranten. Nora setzt aber durch, dass ihre kleine Schwester mitkommen darf. Ihr, der sie nach dem Tod der Mutter immer eine solche war, will sie eine Ausbildung zur Lehrerin finanzieren. Das gelingt zwar, aber ungestüm und träumerisch, wie Theresa im Gegensatz zu ihrer pragmatischen, nüchternen Schwester ist, verliebt sie sich in einen verheirateten Mann und wird schwanger. Ein damals, in den Fünfzigerjahren, unerhörter Skandal. Um diesen zu vermeiden, entbindet sie heimlich und Nora und Charlie geben den kleinen Patrick als ihr Kind aus. Zwischen den Schwestern kommt es zum Bruch, Theresa nimmt den Schleier. Ihr Eintritt ins Kloster und das Klosterleben werden hier auch thematisiert. Nora bleiben häusliche Mühen und die Heiligenbildchen einer verstorbenen Verwandten - „Heilige für alle Gelegenheiten“ („Saints for all occasions“, so der wieder mal viel bessere Originaltitel). Auch ihr Leben ist stark von ihrem katholischen Glauben geprägt.
Nora bekommt mit Charlie noch drei weitere Kinder, führt ein einigermaßen glückliches amerikanisches Leben. Nie wird sie aber über die Vergangenheit sprechen und verheimlicht Patricks Herkunft, auch ihm selbst gegenüber. Es werden überhaupt keine großen Worte gemacht bei den Raffertys, Gefühle spielen kaum eine Rolle. Patrick wird Noras erklärter Liebling, die anderen Kinder fühlen sich zurückgesetzt und ungeliebt.
Das mag nun recht trostlos und traurig klingen, ist es aber eigentlich nicht. Die Raffertys sind eine große Familie, unzählige Cousins und Cousinen bevölkern unzählige Familienfeiern, es wird gesungen, erzählt, gespeist und getrunken. Der Alkohol, der in so vielen Erzählungen von irischen/ irisch stämmigen Familien eine so prominente Rolle spielt – er kann nicht nur ein Klischee sein. Bisweilen kann der Roman, der von der Grundtonart schon in Moll gestimmt ist – schließlich ist sein Ausgangspunkt der verfrühte Unfalltod Patricks -, durchaus mit Humor aufwarten.
Bei der Totenwache und der Beerdigung treffen alle Familienmitglieder aufeinander, auch Theresa verlässt die Klausur des Klosters. Erinnerungen werden lebendig, alte Verletzungen aufgerissen, alte Bindungen erneuert, Geheimnisse kommen ans Licht, der schon Verstorbenen wird gedacht.
Das ist alles natürlich nicht grundlegend neu. Aber J. Courtney Sullivan erzählt gut. Sie ist psychologisch feinfühlig und genau und dicht dran an ihren Personen. Sie wechselt die Perspektive ihrer allwissenden Erzählstimme, verschränkt die Zeitebenen mühelos. Zentral stellt sie die Frage nach der Offenheit in Familien, nach dem Verschweigen, dem nicht miteinander reden können, nach Pflichtgefühl und Liebe, vor allem aber auch nach Vergebung, nach verzeihen können. Sullivan bewertet nicht, beantwortet diese Fragen auch nicht. Sie erzählt. Und das ganz ausgezeichnet.
„Ich wünschte mir, ich könnte in diesem Jahr noch einen so starken und klugen und schönen und herzzerreißenden Roman wie All die Jahre von Courtney J. Sullivan lesen, aber ich glaube, das werde ich nicht.“
So der Schriftstellerkollege Richard Russo in einem Zitat auf der Buchrückseite. Ich stimme ihm zu. Aber das Jahr ist noch jung. Es ist schon mit einigen großartigen Romanen gestartet und ich hoffe tatsächlich auf noch mehr.