Von Zeitwohlstand und Zeitnot

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missmarie Avatar

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"In der dominanten Zeitkultur verwechseln viele Menschen die schiere Dichte ihres Lebens mit Anerkennung, Erfolg oder Freiheit. Wirkliche Freiheit würde jedoch bedeuten, dass wir auch weniger tun, weniger wissen und weniger mitteilen könnten und trotzdem noch jemand wären."

Sind wir die Person, die wir acht Stunden des Tages in unserem Job glauben zu sein? Ist unsere Identität tatsächlich an eine Vollzeitstelle gebunden? Machen uns Beruf und Leistung aus? Und was wäre, wenn die Antwort auf all diese Fragen zu mindest in Teilen "Nein" lauten würde? Teresa Bücker schreibt mit "Alle_Zeit" das vielleicht wichtigste Sachbuch des Jahres - über Zeit. Was auf den ersten Blick philosophisch und abstrakt klingt, hat ziemlich viele konkrete Auswirkungen. Denn die Autorin sinniert hier nicht über das Wesen der Zeit im Allgemeinen. Viel mehr geht es ihr darum, was wir mit unserer Zeit pro Tag anstellen, wie wir unterschiedliche Tätigkeiten bewerten und welche Konsequenzen unser Umgang mit Zeit für die Gesellschaft hat.

Im Fokus steht bei Teresa Bücker die Rolle der Erwerbsarbeit. Anhand vieler Studien und Referenzen auf ältere Forschungen verdeutlicht sie, dass der klassische Achtstunden-Tag und das Ideal einer Vollzeitstelle zu einer mehrfachen Entwertung führen. Entwertet werden nicht nur diejenigen, die in Teilzeit arbeiten, sondern auch die Zeit, die wir nicht mit Arbeit im kommerziellen Sinn verbringen: Pflege, Beziehungen, Sport und Erholung. Anhand überzeugender Rechnungen stellt sie dar, dass unsere Überzeugungen von "richtiger" Arbeit nicht nur uns, sondern auch dem Klima schaden. Auch Gleichberechtigung und falsch verstandener Karriere-Feminismus werden von ihr unter die Lupe genommen. Denn Zeitwohlstand ist nicht gleichzusetzen mit einer Fülle von Beschäftigung und auch Arbeitslose können Zeitnot empfinden, obwohl sie auf den ersten Blick nichts tun. Zeit, die Verteilung von freier Zeit und das Freikaufen, z.B. mithilfe von Haushaltshilfen, wird somit auch zu einer Frage der Gerechtigkeit.

Außerdem diskutiert Bücker verschiedene Zeitmodelle für die Arbeit von morgen. Wie würde sich zum Beispiel eine 20-Stunde-Woche auswirken? Was könnten Menschen mit der Zeit tun, die ihnen nun zur Verfügung steht? Wie sollte bzw. könnten wir Care-Arbeit angemessen wertschätzen?

Bückers Talent liegt darin, die Ergebnisse nicht nur darzustellen und zu verknüpfen, sondern auch ihnen immer wieder Appelle an die Politik aber auch an unseren eigenen Umgang mit Zeit und gewertschätzter Arbeit zu formulieren. Man wünscht sich, diese Buch lese jeder Politiker, der im Bereich der Arbeit etwas ändern kann. Denn Bücker schreibt mit "Alle_Zeit" nicht weniger als einen Wegweise in eine gesunde, ausgeglichenen und gerechte Zukunft.