Beeindruckende und anspruchsvolle deutsche Zeitgeschichte

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kleine hexe Avatar

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Ein wunderschönes Buch, das mich voll und auf ganzer Linie beeindruckt hat. Anhand des Lebens einer Frau von der Kindheit bis ins Alter hinein, wird eigentlich die deutsche Geschichte wiedererzählt, wie sie sich in der Vorkriegszeit, während des Krieges und danach, auf beiden Seiten des Vorhangs abgespielt hat. Denn was ist eigentlich Geschichte? Abgesehen von Jahreszahlen und den Namen der politischen Machthabern? Es sind die Schicksale eines jeden Einzelnen, die zusammengebündelt eine Epoche wiedergeben. Es sind die einfachen Menschen, und wie sie ihr Leben mehr oder weniger selbstbestimmt meistern, die Geschichte machen. In diesem Buch ist es Ilse Schellhaas, Tochter eines Architekten und einer Krankenschwester, die nach einer wohlbehüteten Kindheit und Jugend, die Zeit des NS-Regimes und des Zweiten Weltkrieges mehr oder weniger unbeschadet durchlebt. Sie weiß, dass ihre Mutter den von den Nazi-Schergen Verfolgten zur Flucht hilft, ohne sich aber selbst da einzubringen. Sie lebt in ständigen Streit mit ihrer Schwester Marga, bis diese in einem Winter nach dem Krieg in Russland, wo sie zur ideologischen Schulung war, stirbt. Ilse selber war drei Wochen lang mit einem SS-Offizier verheiratet, der im Krieg starb. Wegen dieser Ehe drohen ihr nun in der Sowjetzone Probleme. Um diese zu umgehen, nimmt sie den Namen ihrer Schwester Marga an. Unter diesen Namen fährt sie nach Berlin um ihre Entwürfe für den Bau der ersten sozialistischen Straße der DDR auch einem Gremium einzureichen. Dort trifft sie Helmut, Margas Ehemann. Überrumpelt spielt er die Charade mit, verrät Ilse nicht. Doch das hat seinen Preis. Ilse ist die einzige Frau in diesem Gremium und wird nicht für voll genommen. Ihr Mann gibt ihre Pläne als seine eigenen aus. Um doch ein eigenes Wirkungsfeld zu haben und nicht zur Kaffee holenden Assistentin degradiert zu werden, übernimmt Ilse die Rolle der Bauleiterin und koordiniert die Arbeiten auf der riesigen Baustelle. Es ist eine Baustelle die von Anfang an die typischen Mängelerscheinungen der neuen Gesellschaft aufweist: es fehlt an Materialien, an Fachkräften, die geleistete Arbeit ist sehr oft nur Pfusch und ohne richtiges handwerkliches Können. Hinzu kommt die Unzufriedenheit der Bauarbeiter (und sämtlicher Arbeiter der DDR) über die ständigen Normerhöhungen, Überstunden, schlechte Versorgung und Bezahlung, der politische Zwang und der Drill dem sie tagein tagaus ausgesetzt sind, während es sich die Politelite und die Architekten gut gehen lassen. Es kommt zum Aufstand vom 17. Juni 1953. Helmut versucht sich selbst zu retten, wendet sich von Ilse ab, die in Gefahr ist, von den aufständischen Arbeitern misshandelt zu werden. Wenn Paule, der Koch, ihr nicht beigestanden hätte, wäre es um Ilse geschehen. Helmut wird während der Demo erschossen. Seinen Tod empfand ich als ausgleichende Gerechtigkeit für die Gefühlskälte und den Neid und Hass den er Ilse entgegen gebracht hatte. Helmut hatte ihr großes Talent als Architektin erkannt und es sich selber zunutze gemacht. Eine Zeit lang schien es, als würde sich ihre Beziehung positiv entwickeln, als hätte ihre Scheinehe eine Zukunft. Doch als Hans, Ilses Cousin und bekennender Homosexueller in ihr Leben tritt, kommt es zu einer verhängnisvollen Liebesnacht und zum offenen Bruch zwischen Ilse und Helmut. Helmut gibt Ilse die Schuld an allem und wirft ihr vor, sein Leben zu ruinieren und ihn nur auszunutzen um ihre eigenen Träume zu verwirklichen.
Nach dem Zusammenschlagen des Aufstandes und Helmuts Tod hält sie nichts mehr in Ostberlin. Dass sie nicht weiter auf der Baustelle arbeiten darf, ist klar. Weil Helmut als „Aufständischer“ auf der Straße erschossen wurde, würden sich die Architekten von ihr distanzieren und ihr Mitwirken unterbinden. Ilse willigt in Paules Vorschlag ein, sich mit ihm in den Westen abzusetzen. Nach der Geburt ihrer Tochter, die von Hans oder Helmut stammen könnte, der aber Paule ein vorbildlicher liebevoller Vater ist, kann Ilse auch bald wieder als Architektin arbeiten. Sie wird erst 1978 wieder in den Ostteil der Stadt zurückkehren, um die fertig gestellte Karl-Marx-Allee zu sehen. Doch sie ist enttäuscht. Die unter so großen Anstrengungen und Entbehrungen fertig gestellten Wohnhäuser weisen immer noch all die Mängel auf, die sich schon während des Baus abzeichneten, weil hastig und mit schlechten Materialien gebaut wurde.
1989 nach der Wende besucht Ilse nun mit ihrer Tochter Friederike die Karl-Marx-Allee erneut. Für Ilse schließen sich einige Kreise: sie hat die Anfangsphase der Karl-Marx-Allee betreut und überhaupt erst ermöglicht, nun ist es an ihrer Tochter, die ebenfalls Architektin ist, den Umbau, Modernisierung und vor allem menschengerechte und lebenswerte Gestaltung der Straße zu verwirklichen. Und noch ein Kreis schließt sich. Der Leser erfährt, was aus Hans geworden ist, wie er sein Leben im toleranten Schweden gelebt hat und wie er über all die Jahre hinweg über Ilse und Friederike Bescheid gewusst hat.
Das Titelbild ist überaus passend. Es zieht sich über Vorder- und Rückseite und auch Buchrücken: Eine junge Frau sieht den Betrachter offen und direkt an, hinter ihr die Karl-Marx-Allee samt Trabi aus der Zeit als die DDR noch jung war, als noch alles möglich schien, als der Sozialismus noch nicht entmythisiert und entlarvt war.
Das Buch ist ein Meisterwerk. Ein sehr angenehmer leichtflüssiger Stil, die Charaktere sind realistisch dargestellt, könnten uns so wie sie im Buch auftreten, jederzeit auf der Straße begegnen. Eine kleine Besonderheit lies mich an die Anfänge der Romanliteratur im 18. Jahrhundert denken. Die Kapitel tragen als Überschrift den Ort und das Datum wo und wann die Handlung stattfindet, danach folgt ein kleiner Absatz in dem in Stichworten die Handlung des Kapitels skizziert wird. Ich finde das sehr schön und einladend, in dem Kapitel zu verweilen.