Stein auf Stein

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aennie Avatar

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Ilse weiß von klein auf, dass sie in die Fußstapfen des Vaters treten möchte, der ein Baugeschäft in Thüringen betreibt. Und zu dieser Zeit ist dies eben nicht nur mit dem heutigen Bauunternehmer gleich zu setzen, sondern auch mit dem Architekten. Sie hat ein Auge für Dimensionen und Symmetrien, Raum und Gestaltung. Häuser, die in den Himmel wachsen möchte sie entwerfen. Anfang der 1940er Jahre beginnt sie ihr Studium in Weimar und wird schließlich Architektin.
Eigentlich ein Zufall räumt ihr eine für sie großartige Chance ein und sie wird Teil des Bauleitungs-Stabes für Entwurf und Verwirklichung eines großen Prestigeprojektes, dem Bau der „Stalinallee“, dem Wiederaufbau des im Bombenkrieg vollkommen zerstörten Straßenzuges zwischen Alexanderplatz und Strausberger Platz in Berlin-Mitte. In weiten Zügen sind es Ilses moderne, innovative Ideen, die die Partei begeistern und schließlich durch das Architekten-Kollektiv umgesetzt werden sollen. Doch agiert sie weder unter ihrem richtigen Namen noch werden ihre Ideen tatsächlich als ihre Schöpfung gewürdigt. Denn neben der aktuellen Handlung ist alles was geschieht auch bedingt durch Ilses Vergangenheit, Entscheidungen, die sie getroffen hat, Menschen, die darüber Bescheid wissen und nicht zu vernachlässigen – dem Gefüge in einem männlich dominierten Konsortium und den Eitelkeiten und Empfindlichkeiten jedes einzelnen Beteiligten, so dass jede kollektive Entscheidung oft einem taktierenden Eiertanz gleichkommt.
Der Leser begleitet Ilses Werdegang im ersten Teil ausgehend von der Entwurfsvorstellung der Allee in Berlin 1950 immer wieder in Rückblenden in ihre Jugendzeit und die Zeit nach dem Krieg, so dass hierdurch ein Gesamtbild der Familiensituation, ihrer persönlichen Situation bis zu diesem Status Quo gezeichnet wird. Danach schreitet die Handlung linear fort, beschreibt den Fortgang der Bauarbeiten, den sozialen und ökonomischen Schwierigkeiten in der jungen DDR, Ilses Rolle und eben die zahlreichen persönlichen Irrungen und Wirrungen bis zum Arbeiteraufstand 1953, der mit einer gravierenden Änderung in Ilses Privatleben einhergeht. Am Ende stehen zwei Kapitel mit jeweils großen Zeitsprüngen, die noch einmal Ilses Sicht auf ihr Projekt, ihre Arbeiterpaläste, lange nach der Bauzeit in den 1950er Jahren beleuchten.
Das alles liest sich flüssig und flott, die Protagonisten sind greifbar, all das drumherum, das diesen Roman zu einer Familiengeschichte macht, ist auch im Großen und Ganzen in Ordnung, aber begeistert hat es mich nie. Auch wenn die Personen nicht blass bleiben, die ganze Handlung bleibt es schon in gewisser Weise. Selten habe ich einen so merkwürdigen Lese-Flow gehabt wie bei diesem Buch. War ich einmal dabei, flogen die Seiten nur so dahin. Allerdings hat es mich selten mehr als ein Stündchen gefesselt, dann zog mich auch nichts zurück und es lag auch tatsächlich einmal zwei Tage unberührt da. Irgendwie ist es eine gut erzählte Geschichte, die sich wirklich prima liest, aber viel mehr als der Inhalt des Buches hat mich dann doch mal wieder die Realität interessiert und ich habe mich immer wieder bei Hintergrund“recherchen“ zum Bau der Stalinallee, zu den einzelnen Blöcken der Architekten, zum Arbeiteraufstand 1953, zum Aufbau der SED, zu Mühlhausen in Thüringen, Sektorengrenzen in Berlin etc. etc. etc. fast länger aufgehalten als beim Roman selbst. Von daher kann ich es auch in keiner Weise negativ bewerten, denn für mich hat es wieder viel getan und das finde ich toll.
Für mich sind es 3,5 Sterne, da es die nicht gibt – 4 Sterne aufgerundet.