Doktor Schiwago ist kein antisowjetischer Roman.

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kleine hexe Avatar

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Diese Aussage stimmt. Viel „antisowjetischer“ empfand ich „Krebsstation“, „Archipel Gulag“ und „der erste Kreis der Hölle“ von Alexander Solschenizyn oder „Die Kinder vom Arbat“ von Anatoly Rybakow oder „Der Meister und Margarita“ von Michail Bulgakow. Diese Autoren sind viel kritischer im Umgang mit dem Stalinismus, den Lebensbedingungen der einfachen Menschen, dem Krieg und seinen Folgen. Trotzdem wurde um Doktor Schiwago ein viel größerer Hype gemacht. Der vorliegende Roman beschäftigt sich mit der Entstehungsgeschichte von „Doktor Schiwago“. Und die ist dramatisch, ie der Roman selbst.
Obwohl Pasternak im Roman nie eindeutig für die rote oder die Weiße Seite Partei ergreift, gehen wohl die latenten Sympathien seines Helden zu den Weißen. Er ist Intellektueller, er ist Arzt, er wird von den Rotarmisten mit Gewalt entführt und gezwungen für sie zu arbeiten. Als Arzt, der dem hippokratischen Eid verbunden ist, tut Schiwago das. Kranke und Verletzte zu heilen, ist seine Pflicht, ungeachtet der politischen Orientierung. Auf beiden Seiten der Krieg führenden Parteien geschehen Gräueltaten, zählen Menschenleben nichts. Weil Pasternak aber nicht eindeutig für die Sowjetsache Partei ergreift in seinem Roman, fühlte sich das Sowjetregime von diesem Werk angegriffenund verunglimpft und verbietet das Erscheinen des Romans in der UdSSR. Es wäre ja nicht das erste Mal.
Aber nun interessiert sich der Westen auch für dieses Werk. Ein italienischer Verlag, Giangiacomo Feltrinelli in Mailand und die CIA in den USA. Das Manuskript wird außer Landes geschmuggelt, übersetzt, zuerst ins Italienische, dann ins Englische, Deutsche, Französische. Doktor Schiwago tritt seinen Siegeszug um die Welt an, dem Autor wird in Absentia der Nobelpreis für Literatur 1958 verliehen. Es werden auch Bücher in der Originalsprache gedruckt und in die Sowjetunion geschmuggelt. Das Buch verbreitet sich auch dort, heimlich, unter der Hand.
Die Reperkussionen für Pasternak und die Menschen in seiner Umgebung sind drastisch. Stalin selber mochte zwar die Lyrik Pasternaks, wollte aber dennoch die Fertigstellung des Romans verhindern. Boris Pasternak war verheiratet, hatte aber auch eine Geliebte, zu der er sich öffentlich bekannte. Olga Iwinskaja ist geschieden, hat zwei Kinder, liebt Boris Pasternak und wird seine Muse. Weil der KGB nicht Boris Pasternak verhaften darf, er steht unter Stalins persönlichen Schutz, wird Olga verhaftet und zu fünf Jahren Zwangsarbeit im Gulag verurteilt. Olga hat Glück. In ihrem dritten Jahr im Gulag Potma wird Olga entlassen, sie darf zurück nach Moskau, zu ihren Kindern und ihrem Geliebten. Mehr oder weniger öffentlich setzen sie ihre Beziehung fort, wohl wissend, dass sie unter ständiger Beobachtung des KGB stehen. Stalins Nachfolger, Nikita Chruschtschow, hat zwar ein politisches Tauwetter eingeläutet, ist aber dem Schriftsteller nicht wohl gesonnen. Nach dem Erscheinen des Romans im Westen und dem Debakel um den Nobel-Preis nehmen die Schikanen und Erniedrigungen für den Schriftsteller zu, Olga wird bedroht. Nach seinem Tod wird Olga erneut verhaftet, zusammen mit ihrer Tochter Ira und für acht Jahre erneut zu einem Gulag verdammt. Dies ist die eine Seite des Romans. Die andere Seite, die in diesem Buch beschrieben wird und die nicht minder faszinierend ist, ist die Geschichte wie Doktor Schiwago in den Westen gelangte. Die CIA war von Anfang an dabei, daran interessiert, einen der UdSSR nicht wohl gesinnten Roman zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs zu verbreiten. Es war die Zeit vor Twitter und Facebook, damals trug Literatur zur Bildung der öffentlichen Meinung bei. Dabei litt der Westen in der Zeit auch an Borniertheit, falschen Moralvorstellungen, Dünkel über die eigene Vorrangstellung dem Osten gegenüber. Hüben wie drüben sind Individuen nicht wichtig, Frauen sind bloß Bauern die gnadenlos geopfert werden, um die eigene Vormacht zu sichern.
Prescott hat ein Meisterwerk geschaffen. Es ist ein Roman über eine große Liebesgeschichte, ein Stück Literaturgeschichte, denn Doktor Schiwago ist zweifellos eines der Meisterwerke der sowjetischen aber auch zugleich der Weltliteratur und ein Stück Zeitgeschichte über den kalten Krieg in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts
Ulrike Seebergers Übersetzung hat mich persönlich angesprochen. Ich hatte zu keiner Zeit den Eindruck eine Übersetzung zu lesen, eher als würde ich das Original in den Händen halten.
Abgesehen vom faszinierenden Inhalt des Buches, ist auch seine äußere Erscheinung wunderschön. Ein durchsichtiger Schutzumschlag über Titelfoto und Klappeninnenbild in Sepiatönen runden die Erscheinungsform des Buches ab.
Abschließend sei mir die Bemerkung erlaubt, der Verlag Rütten & Loening hat uns ein wunderschönes Meisterwerk (wieder einmal) vorgelegt.