Kann man lesen, muss man aber nicht.

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wedma Avatar

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Die XXL-Leseprobe fand ich vielversprechend. Die Buchbeschreibung weckte ebenfalls hohe Erwartungen, die aber im Laufe der Geschichte leider kaum ihre Erfüllung fanden. Spätestens ab der Mitte habe ich gewünscht, die Autorin hätte ein anderes Thema gewählt und einen anderen Roman geschrieben.
Abwechselnd wurden zwei Erzählstränge dem Leser dargeboten: Osten und Westen. Der Erzählstrang im Osten fängt 1949-1950 an und endet 1960-1961, der im Westen fängt 1956 an und endet dort im Sommer 1959. Die Geschichte im Osten erzählt, wie Pasternaks Roman Doktor Shiwago entstand. Der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung des Autors und seiner Muse Olga, ihrer Liebesbeziehung bis zu Pasternaks Tod. Die Story im Westen stellt dar, wie der Roman dort veröffentlicht und, nach Russland eingeschmuggelt, verbreitet wurde. Als Protagonistin wurde hier Irina gewählt, Tochter der russischen Emigranten, die im Stenotypistinnengroßraumbüro in der Agency, beim Geheimdienst, arbeitet. Diese Agency hat eine neue Waffe auserkoren, den neuen Roman von Pasternak, denn die Worte sind Waffen. Damals wie heute, muss man leider sagen.
Der Kontrast in der Darstellung des Lebens im Westen und Osten trat deutlich hervor. Im Westen schien das Leben aus Partys und unbeschwertem Leben zu bestehen. Im Osten wurden hpts. Entbehrungen, Gewalt, Elend dem Leser serviert. Ein sehr düsteres Bild Russlands entsteht vor Augen der Leser. Die ausführlichen Beschreibungen von Olgas Verhaftung und all die beklemmend wirkenden Begebenheiten ihrer Zeit im Gefangenenlager, in Tagebuchform dargereicht, sorgen dafür. Das ganze Elend im Lager steht einem lebendig vor Augen.
In der zweiten Hälfte schmelzen die Erzählstränge zusammen und erzählen davon, wie der in UdSSR verbotene Roman dorthin mithilfe von den Geheimdienstmitarbeitern eingeschleust wurde. Im östlichen Strang wurde gezeigt, wie die Sowjets mit der Veröffentlichung des Romans umgingen, welche Konsequenzen dies für seinen Erschaffer Pasternak und seine Muse Olga und ihre Kinder hatte.
In der ersten Hälfte war ich noch von der Hoffnung beseelt, dass dies ein schöner Schmöker wird. Es ist aber eher ein Frauenroman mit propagandistischer Schlagseite geworden. Zwar hat er insg. gutes Niveau, stellenweise Humor, der Talent der Autorin ist in weiten Strecken gut sichtbar. Mir war hier aber einerseits zu viel von dem typischen Frauenroman-Kleinklein, all diese Gerüchte, wer mit wem in Irinas Büro der Stenotypistinnen ausgeht, das ständige Weggehen, Bars, Drinks, Partys etc. Eine Liebe, die damals in den USA verboten war, wie auch das gelegentliche auf Emotionen spielen und auf die Tränendrüse drücken kamen dann noch dazu. Zudem wurde ich hier zu oft von Perspektivwechsel überrascht: mal erzählt Irina, mal Sally, mal noch eine andere Figur, was mich auch jedes Mal zuverlässig aus dem Lesefluss beförderte.
Meine Begeisterung hielt sich am Ende sehr in Grenzen. Insg. ist der Roman nichts anderes als ein Versuch, das düstere Feindbild Russland in den Köpfen der Leser zu festigen. Die Propagandamaschinerie läuft bereits seit paar Jahren. Der Erzählrahmen ist also vorgezeichnet, und die Autorin bedient ihn hier auch fleißig. Wenn man sieht, in welch dunkeln Tönen der in Russland spielende Erzählstrang gezeichnet ist, all die detailliert gezeichneten Missbrauchsszenen… Der vorgegebene Erzählrahmen wurde durch diese Schilderungen bloß künstlerisch untermalt. Darin kann man einige Meinungsmachegriffe erkennen, die z.B. Albrecht Müller in seinem neuen Buch „Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst: Wie man Manipulationen durchschaut“ beschrieben hat.
Fazit: Man kann es lesen. Muss man aber nicht.