Südstaatendrama und Gesellschaftsroman

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
annajo Avatar

Von

South Carolina, 1922: Getrude Pardee lehnt an einer Zypresse in einem Sumpf und belauert einen 3-Meter-Alligator, der sein Gelege bewacht. Das Tier würde Gertie und ihre vier Töchter auf Monate satt machen. Denn der Mann Alvin ist dem Alkohol verfallen, seit der Baumwollkäfer im Jahr zuvor die komplette Ernte vernichtet hat und seiner Frau erlaubt er nicht, zu arbeiten. Nun reicht das Geld hinten und vorn nicht mehr und Alvin lässt seine Wut immer häufiger an Getrude und den Töchtern aus. Die findet sich schließlich vor der Tür von Annie Coles wieder, bittet dort um einen Job und lässt tagelang eines ihrer Kinder bei der Haushälterin Retta zurück. Doch auch hier ist bei Weitem nicht alles gut. Die Plantagenbesitzerin Mrs. Coles betrauert noch immer einen Sohn, den ein Familiengeheimnis das Leben kostete. Nun, mit einem jungen Kind im Haus, kann sie nicht länger die Augen davor verschließen. Und auch Annie ist nicht frei, darf ihre eigene Näherei nur führen, so lange es ihrem Mann genehm ist. Zur Seite steht ihr jedoch die in erster Generation von der Sklaverei freie schwarze Haushälterin Oretta, die zwar einen liebenden Ehemann hat, aber von der Gesellschaft generell unterdrückt wird.

Diese drei Frauen führen eigene Leben, die sich an bestimmten Stellen immer wieder überschneiden, in denen sie sich gegenseitig zur Hilfe kommen und von denen jede auf ihre Weise für ihre Unabhängigkeit kämpft. "Alligatoren" ist ein packendes und emotionales Drama aus wechselnden Perspektiven, das sehr überzeugend die Beklemmung eines Lebens in den Sumpfgebieten, die Einengung durch starre und veraltete Konventionen, die Kleingeistigkeit in den Südstaaten zur damaligen Zeit und nicht zuletzt die bedrückende Schwüle transportiert. Die Figuren sehen sich einer Unzahl an Hürden gegenüber, unter ihnen häusliche Gewalt, Rassismus, Diskriminierung und finanzielle Abhängigkeit. Getrude ist bei Weitem keine Sympathieträgerin, aber das Mitgefühl für eine Frau in ihrer Situation und Ausweglosigkeit steigt mit jeder Seite, ob der Ungerechtigkeit, die ihr widerfährt. Gezwungenermaßen muss sie Stärke für sich und ihre Töchter zeigen. Getrude ist ein Sinnbild der Personengruppe, die man im heutigen Amerika als "white trash" bezeichnet.
Dass jedoch die höheren Gesellschaftsschichten nicht weniger verroht sind, zeigt Annie Coles Leben, das in vielen Dingen gar keinen so großen Kontrast zu Getrude bildet, auch wenn die Familie Geld hat. Doch auch wenn es ihr eigenes Geld ist, liegt die Entscheidungshoheit bei ihrem Mann, der ihre Arbeit mit der Näherei immer wieder herabwürdigt. Genau wie ihre Beziehung zu ihrem Sohn, der immer wieder versucht, sich dem Vater zu widersetzen und seinen eigenen Weg zu gehen. Da hat es der zweite Sohn schon leichter, der sich dem Vater bedingungslos unterordnet und seine Wünsche auch innerhalb der Familie umsetzt. Und über allem schwebt der Geist des toten Sohns, während die beiden Töchter den Kontakt zu den Eltern komplett abgebrochen haben.
Die oftmals im Hintergrund beobachtende Retta, die still und heimlich die meisten Geheimnisse kennt, muss sich Gedanken machen, wie sie mit zunehmendem Alter abgesichert ist. Denn klar ist: wird sie zu alt oder gebrechlich zum Arbeiten, wird sie einfach ersetzt und niemand wird sich um sie kümmern. Und natürlich erlebt sie tagtäglich den Rassismus gegen Farbige auch am eigenen Leib.

Speras Figuren sind meiner Meinung nach sehr tiefgründig und detailliert ausgearbeitet. Dieses Südstaatendrama um die drei Frauen hat mich sehr mitleiden lassen, es hat mich aber auch bezüglich der Gesellschaftsdarstellung und -kritik überzeugt. Es zeigt ein Amerika der 1920er, das weit entfernt ist von Modernität, Gleichbehandlung und Gleichberechtigung. Für mich ist "Alligatoren" ein sehr empfehlenswertes Buch, das effekttechnisch und optisch zwar eher zurückhaltend daherkommt, beim Lesen aber wichtige Seiten offenbart und dabei beim Lesen immer noch "unterhält".