Nervenzerreißend

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jochen23617 Avatar

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Das helle Ping meines iPads kündigt eine E-Mail an. Sicherlich wieder eine der unzähligen Werbemails, die mich täglich erreichen. Mit einem flüchtigen Blick überfliege ich die Ankündigung auf dem Tablet. Meine Finger formen schon die Geste, mit denen ich solche E-Mails ins Nirwana schicke, als ich den Absender erkenne. Ivar Leon Menger! Eigentlich wollte ich jetzt mit dem Hund raus, das ist schon längst überfällig. Ohne nachzudenken, öffne ich die E-Mail. Eine Leseprobe seines Romans … 36 Seiten. Keine Zeit, ich muss mit dem Hund raus. Verdammt, jetzt habe ich doch auf den Link geklickt. Na ja, wenn ich schon mal da bin, kann ich ja einen Blick – einen kurzen Blick – riskieren … nur die ersten Zeilen, um einen kleinen Eindruck zu bekommen.
Eine Minute später bin ich eingetaucht in die heimelige Atmosphäre eines Familienlebens. Mit einer verblüffenden Leichtigkeit hat Ivar Leon Menger mir die Tür geöffnet, und ich bin eingetreten, sitze als unsichtbarer Gast am Tisch und beobachte das Geschehen. Blaubeerkuchen und Karamellduft, die Tochter hilft der Mutter beim Abwasch … schöne heile Welt.
Okay, ich mus dann mal mit dem Hund … oh je, was geschieht denn da plötzlich. Juno, die Tochter und Erzählerin in diesem Roman, hat einen Plan. Vom Lügen ist die Rede; endet hier die Idylle des Familienlebens?
In Gedanken vertröste ich meinen Hund. Gleich gehen wir raus, nur noch die nächsten zwei … drei Zeilen. Die Tochter plant etwas, aber was zum Teufel hat sie vor?
Nordland … Südland? Nicht nur die Tochter will wissen, wo auf unserer Erde das liegt, auch ich stelle mir die Frage. Die grobe, abweisende Reaktion der Mutter bringt zwar keine Klärung, beweist mir aber, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt. Diese Familie hat Geheimnisse, und ich will verdammt sein, wenn ich behauptete, es interessiere mich nicht.
Die Familie – Vater, Mutter, Tochter und Sohn – lebt seit 12 Jahren in einem Blockhaus auf einer Insel mitten in einem See. Für die Kinder ist es ein Abenteuer, für die Familie eine Frage des Überlebens. Kontakt zum Festland hat nur der Vater, wenn er die notwendigsten Lebensmittel einkauft.
Juno und ihr Bruder kennen nichts anderes als die Insel, die ihnen Heim und Spielplatz ist, aber auch Schutz vor etwas Bösem, das sie nicht kennen, aber fürchten. Doch Kinder sind neugierig. Wie mag es aussehen, dort drüben auf dem Festland?
Ich blicke auf, sehe meinen Hund vor mir auf dem Teppich liegen. Seine Augen beobachten jede meiner Bewegungen. In Gedanken bin ich noch auf der Insel. Wie mag es sich anfühlen, so viele Jahre von der Außenwelt abgeschnitten zu sein? Gerade will ich das Tablet zur Seite legen, als ich es lese: »… das Heulen der Sirenen …« Ich kann jetzt unmöglich mit dem Lesen aufhören. Nur noch die eine Szene, murmele ich in Richtung meines Hundes.
Die Handlungen im Buch beschleunigen, als habe der Autor einen Turbolader aktiviert. Die Kinder, gerade noch draußen am Wasser sitzend, springen auf, lassen alles liegen … rennen um ihr Leben. Ihre Reaktion ist den Regeln geschuldet. Regeln, die sie in- und auswendig kennen, die einzuhalten über leben und tot entscheidet.
Die Familie sitzt im Verlies, so nennen sie das Versteck unter der Blockhütte. Ein enger Raum, in den sie durch ein Loch im Boden gestiegen sind. Männer kommen über den See, erklärt der Vater. Die Angst in diesem Kellerloch explodiert. Fast meine ich, den modrigen Geruch der Erde zu riechen, das Zittern der Kinder zu sehen. Die unausweichliche Konfrontation mit dem Tod, dem die Familie entgegensieht, ist so düster und wirkt gleichzeitig so real, dass ich unmerklich die Luft angehalten habe.
Was muten diese Eltern ihren Kindern zu? Warum ist die Familie in dieser Lage? Wer bedroht ihr Leben? Die Fragen rattern durch meinen Kopf. Meine Augen suchen den Text, springen von Wort zu Wort, von Zeile zu Zeile. Endlich … eine Andeutung, eine kurze Erklärung, warum sie sich auf der Insel verstecken müssen. Okay, das ist nachvollziehbar. Ich atme tief ein und wische mit dem Finger zur nächsten Seite. Nur noch diese eine Seite, dann gehe ich mit dem Hund.
Informationen, ich brauche mehr Informationen, und ich bekomme sie auch. Der Autor schafft es, die Atmosphäre des Kellerraumes lebendig werden zu lassen. Die Stille, das leise Atmen, das Warten auf Geräusche von oben und dann … Übung ist das halbe Leben. Verdammt, es war nur eine Übung. Etwas in mir ist sich in diesem Moment absolut sicher: Es wird das Kapitel kommen, in dem es keine Übung mehr sein wird. Die Düsternis des Kellers endet mit dem Aufsagen der sieben Gebote. Gebote, die das Überleben diktiert hat und an denen sich jeder in der Familie zu halten hat.
Wie selbstverständlich habe ich mit dem 3. Kapitel begonnen und acht Minuten später endet die Leseprobe. Natürlich genau an einer Stelle, an der du hundertprozentig weißt, dass jetzt etwas geschieht, was der Geschichte eine neue, grausame Richtung geben wird.
Ivar Leon Menger hat mit seiner Leseprobe die Angel ausgeworfen und ich zappel am Haken. Er hat mich voll erwischt.
Als ich aufstehe, das Tablet zur Seite lege und nun endlich mit dem Hund gehe, rechne ich in Gedanken nach: Noch 37 Tage bis ich wieder auf der Insel bin. Gleich wenn ich vom Spaziergang zurück bin, werde ich das Buch vorbestellen und mein Hund bekommt ein großes Leckerli für sein geduldiges Warten. So haben wir beide etwas, worauf wir uns freuen können.