Erinnern und Vergessen

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theresia626 Avatar

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Als Mauro Nesta nach einem Auslandsaufenthalt wieder in seine Heimatstadt zurückkehrt, ahnt er noch nicht, was für schmerzliche und auch schicksalhafte Tage vor ihm liegen. Seine Rückkehr fällt auf einen traditionsreichen Tag, denn es ist der letzte Mittwoch im Juni. Wie jeden Sommer seit nunmehr über vierhundert Jahren wird das Jugendfest von allen Bewohnern der Stadt herbeigesehnt und beginnt, nach monatelangen Vorbereitungen, am Abend mit dem Zapfenstreich. Die Häuser sind prächtig geschmückt und die Straßen liebevoll bekränzt. Alles ist geprägt von jahrhundertealten Traditionen. Doch Mauro ist nicht in Jugendfeststimmung, er verbindet mit dem Rutenzug nur schlechte Erinnerungen. Wenn er früher zu Besuch nach Hause kam, wartete seine Mutter Helen schon mit einer Tasse Kaffee auf ihn. Heute wird jedoch alles anders sein, Helen ist an Alzheimer erkrankt und lebt in einem Pflegeheim. Nur Pius Kobelt, ein Freund aus Jugendtagen, besucht sie tagtäglich und unterhält sich mit ihr, doch sie erkennt niemanden mehr. Nicht nur Mauro kehrt nach Hause zurück, vier Jahre vor ihm kam auch Jakob Matter in seine Heimatstadt. Er war ein bekannter Jazzmusiker und in den Jazzstudios und Clubs dieser Welt zu Hause. Jetzt verbringt er seinen Lebensabend in einer Stadt, in die er wegen seiner quälenden Erinnerungen an schlimme Erlebnisse beim Jugendfest 1956 nicht zurückkehren wollte. Früher, als Helens Vater noch der mächtigste Mann im Ort war, war dieser geprägt von Moralismus, Fremdenfeindlichkeit und Engstirnigkeit, und Jakob Matter hatte diese Macht am eigenen Leib zu spüren bekommen. 

Mauro macht mit seiner Mutter einen Spaziergang durch die Altstadt und ganz plötzlich tanzt sie über den Festplatz, so, als würde sie ein unsichtbarer Tänzer führen. Als Mauro seine Mutter fragt, mit wem sie getanzt hat, schlägt sie ihn ins Gesicht. „Pius beobachtete das Geschehen aus dem Hintergrund. Eigentlich war ihm jeder dieser seltenen lichten Momente seiner Freundin ein Geschenk. Dieser nicht.“ (S. 23) Sie hat ihren Sohn vermutlich für jemanden aus ihrer Vergangenheit gehalten und er ahnt, daß sie ein Geheimnis hat. Bestätigung findet er, als er die alten Fotoalben seiner Eltern sichtet und ein Foto aus dem Jahr 1956 entdeckt. Darauf schaut seine Mutter einen unbekannten jungen Mann in Uniform mit einem ganz besonderen Blick an. Sein Vater, der italienische Gastarbeiter Oreste Nesta, kann es nicht gewesen sein, der kam erst sieben Jahre später in die Schweiz.  

Ich habe mir zur Einstimmung auf den Roman „Als der Regen kam“ von Urs Augstburger die extra dafür eingerichtete Webseite angesehen. Mit der gleichen liebevollen Sorgfalt, mit der die Interseite gestaltet ist, ist auch das Buch geschrieben. Der Autor legt sein Hauptaugenmerk auf die Sitten und Gebräuche des Jugendfestes. Vor diesem Hintergrund lüftet er in seinem Roman ein seit über 50 Jahren gehütetes Geheimnis. Alle Beteiligten von damals werden von ihrer Vergangenheit eingeholt, die – wie so oft – nicht vergangen ist, und müssen sich mit ihrer Rolle bei den damaligen Geschehnissen auseinandersetzen. Glück ist sehr zerbrechlich, diese schmerzliche Erfahrung haben die Protagonisten in Urs Augstburgers Roman allesamt gemacht, die wahre und einzige Liebe jedoch ist unvergeßlich. Gibt es eine Sühne für eine alte Schuld, und läßt sich all die verlorene Zeit und eine durch Verrat verpaßte Liebe nachholen? Ich habe Urs Augstburger Roman gerne gelesen. Besonders gut hat mir gefallen, wie er einen modernen Heimatroman mit einer Liebesgeschichte und dem Thema Demenz zu einer berührenden Geschichte verbindet.