Fest der Erinnerung

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Schauplatz des Romans “Als der Regen kam” von Urs Augstburger ist eine namenlose Schweizer Kleinstadt, wo seit mehr als vierhundert Jahren alljährlich am letzten Mittwoch im Juni das traditionelle Jugendfest gefeiert wird, der absolute Höhepunkt des Jahres für alle Einwohner. Mit diesem Fest verbinden sich Mythen und Legenden, und es wird mit besonderen Riten, Tänzen und Liedern gefeiert. Die Einheimischen schmücken die Stadt mit Kränzen und Blumen, und die Jugendlichen üben die Tanzschritte des Reigens.

Zufällig an genau diesem Tag kehrt Mauro Nesta aus dem Ausland in seine Heimatstadt zurück. Er hat seine an Alzheimer erkrankte Mutter Helen seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen und fürchtet sich vor der Begegnung, weil er weiß, dass er sie verändert vorfinden wird. Helen Nesta wird inzwischen in einem Pflegeheim betreut. Sie erkennt ihn nicht mehr. Bei einem Spaziergang durch die Stadt beginnt sie plötzlich auf dem Tanzboden des Festplatzes zu tanzen, als ob sie einen unsichtbaren Partner hätte. Nach dem Tanz schlägt Helen ihrem Sohn ins Gesicht. Sie hält ihn für jemand aus ihrer Vergangenheit. Offensichtlich hat sie an diesem Tag eine große Enttäuschung in der Liebe erlebt, über die sie nie hinweggekommen ist. In der Wohnung der Mutter findet Mauro Spuren, die auf ein Geheimnis verweisen, zum Beispiel ein Foto mit einem Unbekannten. Mauro beschließt, das Geheimnis seiner Mutter zu lüften.

Es gibt weitere Personen, die auch mehr als fünfzig Jahre später mit dem Jugendfest im Jahre 1956 noch schmerzliche Erinnerungen verbinden. Da ist einmal der Musiker Jakob Matter, der sein ganzes Leben im Ausland verbracht hat und erst vor vier Jahren in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist. Zum anderen lebt hier auch sein Freund Pius Kobelt, der ihm als Junge einmal das Leben gerettet hat. Alle drei sind schicksalhaft miteinander verbunden, denn für sie ist das damalige Jugendfest das wichtigste Ereignis ihres Lebens. Quälende Erinnerungen hat auch Mauro, der als junger Mann die Heimatstadt verlassen hat, nachdem ihm dort - ebenfalls bei einem Jugendfest - eine schwere Demütigung zugefügt worden ist und der seitdem rastlos und unfähig zu einer dauerhaften Beziehung in der Welt herumzieht.

In diesem Zusammenhang spielt Helens familiärer Hintergrund eine besondere Rolle. Helens Vater war einst der mächtigste Mann im Ort und wurde “König” Bellard genannt. Ihn machte man sich nicht zum Feind, wenn man es zu etwas bringen wollte. Er hatte eine erzkonservative nationalistische Partei gegründet und tat noch 1956 seine braune Gesinnung kund. Er hielt konspirative Treffen mit seinen Gefolgsleuten ab und beschäftige eine Schlägertruppe, um seinen Überzeugungen gegenüber Andersdenkenden Nachdruck zu verleihen, wobei er deren Tod durchaus billigend in Kauf nahm. Durch Helens unerwünschte Ehe mit dem italienischen Gastarbeiter Oreste ist Mauro Halbitaliener und hatte als Kind und Jugendlicher unter der weit verbreiteten Diskriminierung und der Beschimpfung als “Tschingg” zu leiden.

Hier wird der kritische Ansatz des Autors deutlich. Zwar nimmt das Fest als zentrales Ereignis mit all seinen Phasen breiten Raum ein, aber Augstburger zeigt auch, was neben der Brauchtumspflege noch so alles gedeiht: provinzielle Borniertheit, Standesdünkel und Ausländerfeindlichkeit. Er zeigt, zu welchen Entgleisungen es kommt, wenn Schweizer Identität geschützt werden soll und lässt auch heikle zeitgeschichtliche Themen wie die Politik der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit nicht aus.

Mir hat der Roman sehr gut gefallen. Für besonders gelungen halte ich die Verknüpfung der verschiedenen Themenbereiche. Der Roman verbindet die Geschichte einer großen Liebe und eines Verrats mit dem Porträt einer Demenzkranken und zeigt eine berührende Mutter-Sohn-Beziehung. “Als der Regen kam” ist außerdem ein Heimatroman, der dem Leser ohne jeden Kitsch die fremde Welt jahrhundertealten Brauchtums näher bringt. Ein sehr empfehlenswertes Buch.