Liz Murray, eine Repräsentantin des amerikanischen Traums

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buecherfan.wit Avatar

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 Liz Murrays Buch “Als des Tag begann” gehört in die in den USA beliebte Tradition der Elendsmemoiren (misery memoir tradition), auch misery-lit genannt. Liz erzählt ihre eigene Geschichte, beschreibt ihre Kindheit und Jugend als zweite Tochter drogensüchtiger Eltern. Was sie beschreibt, ist so schrecklich, dass sich der Leser nur noch wundert, wie sie und ihre zwei Jahre ältere Schwester Lisa überlebt haben. Die Schwestern leben in einer völlig verwahrlosten Wohnung, leiden Hunger, weil ihre Eltern den Sozialhilfescheck überwiegend für Drogen ausgeben und die Lebensmittel immer nur für wenige Tage am Monatsanfang reichen. In der Schule werden sie zu Außenseitern, weil sie schmutzige, schäbige Kleidung tragen, weil sie verlaust sind und stinken. Liz hört dennoch nie auf, ihre Eltern zu lieben, und sie fühlt sich schon als Kind für ihre Mutter verantwortlich und versucht, sie zu beschützen. Nächtelang wacht sie schon als Kind am Fenster und wartet auf die Rückkehr der Mutter. Auf diese durchwachten Nächte spielt im übrigen auch der amerikanische Titel "Breaking Night" an ("break night" bedeutet nichts anderes als "stay up all night without sleeping until the sun comes up.")  Später trennen sich die Eltern, die Mutter zieht mit Lisa zu einem Freund, der von Liz als sehr unsympathisch beschrieben wird. Er ist ein Kontrollfreak und hat ein Alkoholproblem, aber immerhin nimmt er die Mutter und Lisa, später auch Liz auf, nachdem der Vater die Wohnung verloren hat. Liz hat zu dem Zeitpunkt einen Zwangsaufenthalt in einem Heim hinter sich, weil sie massiv die Schule geschwänzt hat. Es ist nur logisch, dass sich die Eltern nicht nur um die Gesundheit und Ernährung ihrer Kinder nicht kümmern, sondern auch für ihr schulisches Fortkommen kein Interesse zeigen. Die Aidserkrankung der Mutter kommt als neuer Schicksalsschlag hinzu. In dieser Phase hat Liz einen Freund, Carlos, der sich zunächst als sehr einfühlsam und hilfsbereit erweist, dann aber immer unberechenbarer und besitzergreifender wird. Lisa verlässt ihn, als sie erkannt hat, dass er Drogenkonsument und Dealer ist und sie in höchste Gefahr bringt. Von da an ist sie obdachlos und überlebt nur mit Hilfe eines Netzes von guten Freunden, die sie nachts in ihre Elternhäuser schmuggeln und ihr Essen mit ihr teilen. Als Liz 16 Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter an Aids. Liz beschließt, wieder zur Schule zu gehen und schafft tatsächlich mit Hilfe von hochmotivierten und verständnisvollen Lehrern den Abschluss an einer alternativen Highschool. Sie zeigt in diesen zwei Jahren enorme Willenskraft und großes Durchhaltevermögen, denn auch in dieser Zeit hat sie keine Bleibe. Aus Tausenden von Bewerbern wird sie ausgewählt und bekommt ein Stipendium für Harvard.

Liz Murrays Erfolgsstory ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Sie ist eine self-made woman, die sich unter Überwindung aller Schwierigkeiten an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht und ihre Träume verwirklicht. Insofern verkörpert sie den amerikanischen Traum, der besagt, dass es jeder schaffen kann, wenn er nur hart genug für die Verwirklichung seiner Wünsche arbeitet.Typischerweise vergleicht sie sich mit einer Hürdenläuferin, die ihre Bahnen zieht, ohne sich aufhalten zu lassen oder das Ziel aus den Augen zu verlieren. Noch bemerkenswerter ist Liz´ unerschütterliche Liebe zu den Eltern, die ihre Kinder im Rahmen ihrer Möglichkeiten lieben, für die aber der nächste Schuss fast immer oberste Priorität besitzt. Liz hat das sehr früh verstanden, und selbst in den Zeiten der schlimmsten Verwahrlosung fühlt sie sich geliebt. Sie kennt den familiären Hintergrund ihrer Eltern, die aus desolaten Verhältnissen stammen und deshalb zu dem geworden sind, was sie sind. Liz vergibt ihnen und ist so in der Lage, ihre Geschichte ohne Verbitterung zu erzählen und ihr eigenes Leben zu leben.

Liz Murrays Autobiographie schockiert und berührt den Leser, auch wenn die Darstellung einige Längen hat und sich die Details des unsäglichen Elends wiederholen. Am Ende vermittelt das Buch Hoffnung, nicht Hoffnungslosigkeit und hat eine klare Botschaft: nie aufgeben, sondern für die Verwirklichung der eigenen Träume kämpfen. Ob etwas möglich oder unmöglich ist, zeigt sich erst, wenn man es versucht.