Befreiung?!

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sonja steckbauer Avatar

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Bereits im ersten Satz greift die Ich-Erzählerin ein Zitat Voltaires auf und konstatiert daraufhin, dass sie fast ihr ganzes Leben damit verbracht habe, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie keine Schuld an all dem Schlechten trage. Das Thema „Schuld“ wird den gesamten Roman prägen sowie das Leben mit dem Schuldgefühl, obwohl die Erzählerin zum Zeitpunkt des Verbrechens ein Kind waren und sich somit damals zumindest ihrer Schuld nicht bewusst war. Genau genommen fühlt sie sich doppelt schuldig, was im Verlauf des Romans nach und nach klar wird.
Es geht um Gretel, die seit dem Tod ihres Bruders Bruno aus dem Roman „The Boy in the Striped Pijamas“ damit leben musste, dass ihr Vater ein Verbrecher war und ihr Bruder unschuldig zu Tode gekommen war. Als 15-jähriges Mädchen in Paris kann sie ihre Geschichte keinem anvertrauen, keiner hätte sie verstanden. Doch dann holt sie die Vergangenheit ein, und sie und ihre Mutter werden von den Nachbarn für ihre Lügen bestraft. Ist es legitim, dass andere derart grausam über sie richten?
Sie flieht nach Australien, nur um festzustellen, dass sie auch dort von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Als sie selbst als Rächerin eines der Schuldigen auftreten will, wird ihr klar, dass sie dazu nicht fähig ist und dass sie immer noch mit ihrem eigenen Anteil an den schrecklichen Ereignissen „an jenem anderen Ort“ kämpft. Und wieder stellt sich dem Leser / der Leserin die Frage, wie heute mit der Vergangenheit umzugehen ist.
Mit über 90 Jahren, einem komfortablen Leben in einer eleganten Wohnung in London, wird sie abrupt gezwungen, sich mit den Themen Gewalt und Ungerechtigkeit auseinanderzusetzen, Themen, vor denen sie ihr ganzes Leben lang geflohen war und sich hinter Lügen versteckt hatte. Ob Gretel an ihrem Lebensende aktiv in das Geschehen um sich eingreift und somit von ihrer Schuld befreit wird, soll nicht vorab verraten werden.
Der Roman ist in abwechselnden Kapiteln mit Rückblicken geschrieben, welche meist in einer gelungenen Verbindung stehen. Die Sprache ist absichtlich nüchtern, somit ist gewährleistet, Distanz zu den erzählten Ereignissen zu halten. Gesamt ein spannender Roman, der zum Nachdenken über den Umgang mit Täterschaften während Nazi-Deutschland anregt.