Ein überraschendes und einfühlsames Lebensporträt

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nicky_g Avatar

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Gretel Fernsby lebt seit dem Tod ihres Mannes allein in einem schicken Apartment in Mayfair, London. Ihr Sohn Caden kommt sie gelegentlich besuchen, vor allem wenn er sie wieder überreden will, die Wohnung zu verkaufen. Aber Gretel fühlt sich wohl, auch wenn nun eine neue Familie ins Haus einzieht. Dass diese Veränderung die Vergangenheit aufreißen wird, ahnt sie schon, als sie Henry kennenlernt, den kleinen Sohn der neuen Nachbarn, der längst verloren geglaubte Erinnerungen erweckt.

Gretel flüchtete 1946 mit ihrer Mutter nach Paris. Zunächst erfährt der Lesende nur in Andeutungen, wie die Familie in den Taten des Dritten Reichs verwickelt war. Diese Balance zwischen Tat und Unwissen, zwischen Unschuld und Mitschuld aus Gretels Sicht ist wunderbar eingefangen, ohne dabei belehrend zu wirken, sondern verwirrend anschaulich. Wie fühlte es sich für ein zehnjähriges Mädchen an?

John Boyne hat eine ganz eigene Sprache, mit der er den Charakteren Leben einhaucht. In Bildern und Vergleichen erschafft er einen eigenen Kosmos, in dem der Leser sich jedes Wort kostbar auf der Zunge zergehen lassen kann.

Der Wechsel zwischen Gretel als junges Mädchen 1946 und als gereifte Frau 2022 erfolgt fließend und ineinandergreifend, so dass der Leser sich gerne an die Hand nehmen und durch ihr Leben führen lässt.

Zudem gelingt es dem Autor sehr einfühlsam, Gretels Leben aus ihrer eigenen Sicht zu erzählen: egal, ob als junges Mädchen, das sich nach Liebe sehnt, ob als junge Frau, die vor der Vergangenheit und der eigenen Schuld davonläuft, oder ob als alte Frau, die misstrauisch auf Veränderungen und Neuerungen blickt.

John Boyne hat mit dieser Fortsetzung „Der Junge im gestreiften Pyjama“ erneut ein überraschendes Lebensporträt geschaffen, das so natürlich wirkt, als hätte es tatsächlich so passieren können.