Wie viel Leben verträgt ein Mensch?

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nähpummelchen Avatar

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Als ich gehört habe, dass dieses Buch die Geschichte der Schwester vom Jungen im gestreiften Pyjama erzählt, wollte ich es sofort lesen. Das Buch hat mich damals sehr mitgenommen und auch der Film war sehr ausdrucksstark und ergreifend.
Gretel, die Schwester, erzählt in dem Buch von ihrem Leben. Die Erfahrungen, die sie als Mädchen machen musste und der gewaltsame Tod ihres Bruders lasten schwer auf ihr, und sie bringt es nicht fertig, den Namen ihres Bruder über die Lippen zu bringen. Jetzt lebt sie als alte Frau in einer der besseren Gegenden in London und erzählt davon, wie sie mit ihrer Mutter zunächst nach Frankreich geflohen ist und erst im letzten Moment - und schon zu spät - bemerkt hat, dass der Neubeginn und ihr Start in ein anderes Leben eine Täuschung war. Dass sie aufgeflogen sind und an ihnen Rache geübt wird. Weiter geht die Flucht in ein neues Leben für Gretel nach Australien, wo sie auch zunächst ankommt, eine Freundin findet und es dennoch nicht schafft, sich ihr anzuvertrauen und ihre Geschichte mit ihr zu teilen - zu schwer wiegt die Last auf ihr. Doch auch in Australien verfolgt sie die Vergangenheit dieses "anderes Ortes", an dem ihr Bruder so unfassbar gewaltvoll zu Tode gekommen ist. Sie flieht erneut und landet am Ende in London. Lernt da etwas holperig ihren Mann kennen, dem sie sich auch anvertrauen kann und der sie ungeachtet ihrer Vergangenheit aufrichtig liebt.
Sie erzählt von ihrem Sohn, zu dem sie gerade in jungen Jahren Schwierigkeiten hatte, ein inniges Verhältnis aufzubauen - immer in Sorge, ihre schwere Vergangenheit mit ihrem Bruder könnte sie wieder einholen.
Sie erzählt von ihrem ersten Kind, einer Tochter, die sie zu Adoption gegeben hat und der sie aber noch einen Namen geben durfte.
Sie erzählt von den neuen Nachbarn, die unter ihr einziehen und bei denen sehr schnell klar wird, dass hier etwas nicht stimmt. Der Mann entlarvt ihre Geschichte und beginnt, sie damit zu erpressen, damit niemals bekannt wird, dass er ein gewaltsamer Ehemann und Vater ist. Doch noch einmal lässt Gretel sich nicht zum Schweigen bringen. Sie kann nicht ertragen, den kleinen lieben Nachbarsjungen so leiden zu sehen und möchte scheinbar an ihm wiedergutmachen, was ihr bei ihrem eigenen Bruder nicht geglückt war.
Dies ist die Geschichte einer Frau, die mit den Entscheidungen und Taten ihres Vaters leben muss, die einen Weg gefunden hat mit den Dingen umzugehen, in die sie unschuldig hineingeboren wurde und deren Bilder sie zeitlebens nicht mehr loslassen und die dabei hart mit sich ins Gericht geht. Mich hat die Geschichte sehr ergriffen, ich fand die Protagonistin authentisch und man konnte miterleben, wie sie in den verschiedenen Epochen ihres Lebens mit der Vergangenheit umzugehen lernte - auch zu einem Zeitpunkt, als sie diese empfindlich einholte. Einzig die Tatsache, dass ihre etwas jüngere demente Nachbarin sich als ihre zur Adoption frei gegebene Tochter entpuppt, und sie in ihrer Verzweiflung oder in ihrem Mut dem erpresserischen Nachbarn ein Teppichmesser durch die Kehle zieht, hat die Geschichte für mich etwas ins unglaubwürdige schweifen lassen, was der wunderbaren Geschichte an sich dennoch einen Abbruch gibt.