Wo beginnt Schuld?

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matheelfe Avatar

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„...Zum ersten Mal wurde mir vollkommen bewusst, dass ich mein Leben lang, jeden einzelnen Tag, würde lügen müssen, wenn ich überleben wollte...“

Dieser Satz zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Er prägt nicht nur das Leben von Gretel.
Die Autor hat einen tiefgründigen Roman geschrieben. Letztendlich steht über der Geschichte eine Frage: Wo beginnt Schuld?
Der Schriftstil ist ausgereift und führt in die Tiefe. Er wird abwechselnd in zwei Zeitebenen erzählt. Einmal erlebe ich das Geschehen der Gegenwart, zum anderen lässt mich Gretel an ihre Vergangenheit teilhaben. Dazu sollte man wissen, dass es einen Vorgängerband gibt, der während des Zweiten Weltkriegs spielt. In der Zeit war Gretels Vater Lagerkommandant eines KZs.
Gretel ist mittlerweile über neunzig Jahre alt und Witwe. Seit vielen Jahren wohnt sie in London. Als in die Wohnung unter ihr eine Familie mit einem neunjährigen Jungen einzieht, kommt alte Erinnerungen zurück. Sie beginnen 1946:

„...Ich war fünfzehn, wusste wenig vom Leben und tat mich immer noch schwer damit, dass die Achsenmächte besiegt worden waren….“

Gretel war mit ihrer Mutter nach Paris geflohen. Dort hoffen sie, sich ein neues Leben aufzubauen. Doch ihre Identität wird aufgedeckt.
Immer wieder wird im Buch die Frage nach der Schuld gestellt. In Paris sieht das Gretel so:

„...Ich redete mir ein, dass nichts davon meine Schuld gewesen sei, dass ich nur ein Kind gewesen war, aber eine leise Stimme in meinem Kopf fragte, warum ich unter falschen Namen lebte, wenn ich doch so unschuldig war...“

Zu den bewegendsten Szenen im Buch gehört ein Gespräch zwischen Gretel und Kurt. Als 12jähriges Mädchen hat Gretel für den jungen SS – Mann geschwärmt. Nun treffen sie ich durch Zufall in Australien. Er glaubt sich unschuldig.

„...Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Ich war Soldat. Und Soldaten gehorchen Befehlen. Hätte ich mich geweigert, wäre ich erschossen worden...“

Es wird in jeder Zeile deutlich, wie schwierig es ist, sein Leben lang ein Geheimnis mit sich zu tragen. Nur wenigen Personen hat sich Gretel offenbart. Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich.
Im Geschehen der Gegenwart bekommt Gretel mit, dass der neue Hausbewohner wie ein Tyrann über seine Familie herrscht. Er schlägt zu, wenn es ihm danach ist. Gretel zeigt ihn an, doch nichts ändert sich. Doch – eines. Er schnüffelt in Gretels Vergangenheit, findet ihre Wurzeln und erpresst sie. Er will ihr Leben öffentlich machen. Soll die Zukunft ihres Sohnes und des erwarteten Enkelkindes auch von ihrer Vergangenheit überschattet werden? Sie muss eine Entscheidung fällen.
Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen.