Wo sind die Grenzen der Schuld?

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Den ersten Teil 'Der Junge im gestreiften Pyjama' fand ich sehr ergreifend, habe den Film dazu mehrere Male geschaut und mich immer wieder gefragt, was wohl mit den Hauptcharakteren nach Kriegsende geschah (natürlich mit Ausnahme von Bruno). Als ich gelesen habe, dass es eine Fortsetzung gibt, war ich sehr gespannt und wurde nicht enttäuscht. Das Buch ist sehr ergreifend und beschäftigt den Leser auch über die Lektüre hinaus.
Brunos Schwester Gretel ist mittlerweile über 90 Jahre alt, verwitwet, lebt alleine in London, hat sporadischen Kontakt zu ihrem Sohn und ein paar anderen Bekannten. Natürlich hat sie nie die dramatischen Ereignisse von damals vergessen können, ganz im Gegenteil haben sie ihr ganzes Leben geprägt. Vor allem empfindet sie tiefe Schuldgefühle, sie kann sich nicht davon befreien, ihr ganzes Leben wird davon durchtränkt und verhindert entspanntes Glücklichsein. "Schuld schlich sich in jeden glücklichen Moment und flüsterte einem ins Ohr, dass man kein Recht auf dieses Glück habe" (S. 139).
Sehr geschickt wechselt der Autor immer wieder die Perspektive zwischen heute und der Vergangenheit, wobei wir nach und nach immer mehr über Gretels Leben erfahren. Dieses Leben war geprägt von Einsamkeit und tiefen Schuldgefühlen. Sie hat zwar immer einzelne Menschen an ihrer Seite, aber nur ganz wenigen gegenüber öffnet sie sich , um ihr Gewissen zu erleichtern und sich zu erklären. Sogar das Verhältnis zu ihrem Sohn ist distanziert, sie kann keine Nähe zu ihrem Kind entwickeln, denn immer ist die Erinnerung an Brunos dramatisches Lebensende präsent und an die furchtbaren Geschehnisse überhaupt. Gretel versucht zu vergessen, aber die Schuldzuweisung an sich selbst ist zu dominant.
Das Buch ist sehr spannend geschrieben, fesselnder als so mancher Krimi. Besonders wenn sich die Lage wieder mal zuspitzt, hält man die Luft an. Auch in Lesepausen beschäftigte mich der Inhalt. Am liebsten hätte ich das Buch nicht aus der Hand gelegt, der zweite Band ist eine gleichwertige Fortsetzung des Vorgängers.
Meine Meinung über Gretel ist zwiegespalten, wobei mir die ältere Gretel deutlich sympathischer ist. Als junge Frau wirkt sie neben ihren Selbstvorwürfen irgendwie selbstverliebt und fordernd, während sie als ältere Frau zwar immer noch dominant ist, aber ein selbstbestimmtes Leben führt.
Das Buch hat mich tief beeindruckt, seine Spuren hinterlassen und verdient zweifellos fünf Sterne.