Zwei Erzählstränge ohne Harmonie

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frommehelene Avatar

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Die bald 90jährige Edna lebt zurückgezogen mit ihrem Papagei Emil in einem kleinen Ort in Norditalien. Sie soll bald nach Willen ihrer „Freundin“ Adele und deren Ehemannes in ein Seniorenheim umziehen. Als sie ein Foto ihres alten Kinderfreundes Jacob in einer Zeitschrift entdeckt, begibt sie sich kurz entschlossen auf eine Reise über die Berge, die sie als Kind bereits einmal bewältigt hat. Fast 80 Jahre hat sie darauf gewartet Jacob wiederzufinden und ein Versprechen einzulösen. Ednas Reise ist gepflastert von ungewöhnlichen Begegnungen, schmerzhaften Erinnerungen und gutgemeinten Rettungsversuchen.

Das Buch hat mich mit seinem historischen Erzählstrang rund um die Schwabenkinder begeistert und gleichzeitig mit der aktuellen Reiserzählung abgestoßen. Ednas Erinnerungen an ihre Kindheit fließen nachvollziehbar in ihren Alltag ein, werden aber auch als separate Kapitel erzählt und erzeugen durch die Auswahl und Platzierung der Szenen ein ganz besondere Spannung. Im Gegensatz dazu wirkt die aktuelle Reise der leicht verwirrten fast 90-Jährigen wie ein überfrachtetes Roadmovie.

Ich war immer wieder froh, wenn ich an einem der historischen Abschnitte ankam. Die dramatische und emotionale Erzählung der 10-jährigen Edna von ihrem Verkauf in die Knechtschaft eines schwäbischen Großbauern ging mir sehr zu Herzen. Gerade die kindliche Sichtweise auf den brutalen Alltag und die schrecklichen Übergriffe, denen die Kinder ausgesetzt waren, protokollieren besonders gut diese damaligen unmenschlichen Machenschaften – die bis in die Mitte der 50iger Jahre durchaus eine gebräuchliche Tradition in den ärmlichen Bergregionen war. Man spürt die gute historische Recherche und die traumatischen Ereignisse werden mit viel Fingerspitzengefühl behandelt. Ich fieberte mit der kleinen Edna, bewunderte den mutigen Jacob, der sich so fürsorglich um Edna kümmerte, und war gefangen von der authentischen Atmosphäre.

Doch ich konnte das Buch nicht genießen, weil die aktuelle Handlung mich immer wieder herausriss. Es wollte sich einfach kein harmonisches Miteinander der Erzählstränge einstellen. Auf ihrer aktuellen Reise lernt die leichtgläubige Greisin jeden Tag neue Leute kennen, die ihr hilfsbereit und doch sehr unkonventionell zur Seite eilen. Daraus entwickelt sich jedes Mal ein kurioses Tagesabenteuer, bei dem sich die Autorin an Witz zu überbieten sucht. Gleichzeitig lassen diese Erlebnisse jeden Realitätssinn - was eine fast 90-Jährige und ein alter Papagei tagelang unter freiem Himmel zu leisten vermögen - vermissen. Auch die Nebencharaktere Adele und ihr Ehemann, denen einige Perspektiven gegönnt werden, können mich mit ihren Eheproblemen, eigenen Plänen und Manipulationsversuchen nicht überzeugen. Zeitweise war ich richtig genervt und mochte nicht weiterlesen. Doch der historische Erzählstrang hatte mich so gebunden, dass ich das Buch nicht abgebrochen habe.

Zum Ende ist es der Autorin tatsächlich gelungen, die beiden Handlungsstränge zusammenzuführen und ein emotionales Ende zu bereiten. Ich mochte dabei die rührende Auflösung des Versprechens, Ednas weitere Zukunftsplanung hingegen reiht sich in das Kuriositätenkabinett ein.

Fazit: Spannender historischer Handlungsstrang und überzogenes Roadmovie führen zu keinem einheitlichen Lesegenuss.