Es wird persönlich

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
siebente Avatar

Von


Was macht einen wirklich guten Roman aus? Diese Frage stelle ich mir immer wieder. Es gibt Bücher, die man einfach nicht aus der Hand legen kann, andere Bücher, die „süffig“ sind, aber, die man durchaus über einige Tagen und Wochen hinweg liest und wieder andere, die zäh sind.
Für mich sind die (Haupt-) Figuren von Romanen ein entscheidender Faktor für den Sog. Oft sind es besondere Eigenschaften, aber auch Schicksalsschläge, die Charaktere besonderes reizvoll machen. Fans des Schriftstellers Hakan Nesser kennen und schätzen seine Stamm-Protagonisten wahrscheinlich. Für mich war „Am Abend des Mordes“ die erste Begegnung mit dem schwedischen Autor und seinen zentralen Figuren Gunnar Barbarotti und Eva Backmann. Ob mich die beiden und ihr neuester Fall überzeugen konnten, dazu nun Stück für Stück mehr.


Inhaltsverzeichnis:
************************
1. Der Autor: Hakan Nesser
2. Ort und Zeit der Handlung
3. Hauptfiguren
***a) Gunnar Barbarotti
***b) Eva Backmann
4. Die Geschichte
5. Themen
***a) Beziehungen
***b) Verlust des Partners
6. Zielgruppe
7. Daten zum Buch
8. Pro & Contra
9. Fazit


1. Der Autor: Hakan Nesser
*********************************
Wenn es um Krimis/Thriller geht, gehört Hakan Nesser schon lange international zu DEN bekannten Autoren. Da ich persönlich bislang aber stärker zu den Romanen aus dem englischsprachigen Raum tendiert habe, kannte ich Nesser bis jetzt nur namentlich.
Der Schriftsteller wurde 1950 in Kumla, Schweden geboren. Er studierte Soziologie, Englisch, Literaturgeschichte, Philosophie, Skandinavistik und Geschichte und arbeitete zunächst als Lehrer am Gymnasium.
Daneben begann er zu schreiben und veröffentlichte 1988 seinen ersten Roman mit dem späteren Serien-Komissar Van-Veeteren. 2006 startete Nesser dann eine neue Reihe, die mit dem Ermittler Barbarotti, der auch in „Am Abend des Mordes“ im Zentrum steht.
Mehrfach wurde Nesser mit dem schwedischen Krimipreis ausgezeichnet, einige seiner Bücher wurden verfilmt – und auch in Deutschland gezeigt. Neben Henning Mankell zählt Nesser zu den bekanntesten schwedischen Krimi-Autoren der Gegenwart.


2. Ort und Zeit der Handlung
**********************************
Der Roman spielt vor allem in der Gegenwart, er spielt aber auch in den 80er Jahren, verknüpft das heutige Geschehen mit Rückblenden, durch die nach und nach der Fall, um den es geht, deutlicher wird.
Schauplatz der Geschichte ist Schweden mit mehreren Orten: Da ist die (fiktive) Region Kymlinge, in der Barbarotti lebt. Er kommt aber auch nach Stockholm, das ihm ausnehmend gut gefällt und reist im Zuge seiner Ermittlungen in den Norden Schwedens. Die Tatsache, dass ein Hauptort der Handlung fiktiv ist, macht es einerseits egal, wo die Geschichte statt findet, andererseits kann man sich vielleicht auch etwas weniger dort hindenken.



3. Die Hauptfiguren:
**********************************
a) Gunnar Barbarotti
Bei Hakan Nesser ist schnell klar: Barbarotti ist DER zentrale Charakter der Geschichte. Stammleser von Nesser kennen den Ermittler bereits. Die neue Folge der Barbarotti-Reihe wird aber als "sein persönlichster Fall" verkauft. Barbarotti ist Vater von fünf Kindern, einige davon sind seine eigenen, die anderen die seiner Frau Marianne. Doch Marianne stirbt, durch ein Anorisma. Und Barbarotti ist außer sich vor Trauer, hat kaum noch Lebensmut. Er muss zurück ins Leben finden.
Dazu könnte sein Arbeit beitragen. Doch statt in einem aktuellen Mordfall zu ermitteln, muss er sich mit einem alten, ungelösten Fall befassen. Barbarotti tut das, gewissenehaft und doch halbherzig, da ihn die Trauer immer wieder überwältigt. Hoffnung und Mut geben ihm die schon jugendlichen bis erwachsenen Kinder und auch die Kollegin Eva Backmann.

b) Eva Backmann
Die zweite Ermittlerin der Geschichte ist Fans der Reihe sicher auch schon vertraut. Auch sie ist eine Figur mit einem "persönlichem Schicksal". In ihrem Fall ist etwas passiert, was in so einigen Familien vorkommt: Ihr Mann hat eine Neue und ist mit der auch gleich in das ehemals (mit Eva) gemeinsame Haus eingezogen. Immer wieder packt Eva die Wut darüber und über die Dreisigkeit ihres Ex, der immer noch will, dass sie für das Haus weiter mitzahlt. Andererseits versucht sie, Barbarotti zu helfen. Und auch sie trauert. Denn Barbarottis Frau Marianne war auch eine Freundin von Eva.

c) Ellen Bjarnebo
Noch eine interessante Figur mit einem Schicksal ist Ellen Bjarnebo. Mann lernt sie zunächst lange nicht "persönlich" kennen sondern hört als erstes mit dem Stichwort "die Schlächterin" von ihr. Bjarnebo hat tatsächlich im Schlachthaus gearbeitet. Und sie ist als Mörderin ihres Mannes verurteilt worden. Die Tat hatte sie gestanden, der Tote war "fachgerecht" von der Schlechterei-Angestellten zerlegt worden. Doch ist Ellen wirklich so ein brutaler Mensch. Nach und nach erfährt man in Rückblenden, wie es zum Tod von Ellens Mann kam und wie er zuvor sie und seinen Sohn mit Geschrei, Gealt und Lieblosigkeit gequält hat. Wurde Ellen also zu dem Mord getrieben? Und ist sie eine Wiederholungstäterin? Denn während der Mord an Ellens Mann Harry als gelöst zu den Akten gelegt wurde, ist der Verbleib ihres späteren neuen Partners, Arnold Morrinder, nie aufgeklärt worden.


4. Die Geschichte
***************************
Einiges zur Geschichte habe ich ja schon angedeutet: Gunnar Barbarotti hat seine Frau verloren, ist in tiefer Trauer und soll bei seiner Rückkehr in den Polizeidienst einen alten, ungelösten Fall bearbeiten: Was ist mit Ellen Bjarnebos Freund Arnold Morrinder geschehen? Hat sie ihn ermordet? Schließlich wurde sie als "Schlächterin" für den Mord an ihrem Mann Harry verurteilt. Eigentlich scheint alles klar zu sein. Nur mühsam kann sich Barbarotti auf die Ermittlungen konzentrieren, er redet mit verschiedenen Zeugen, sucht den Sohn von Ellen und Harry in Schweden auf, lernt dessen Frau Juliana kennen, findet Ellen schließlich in Nord-Schweden und ist von der Frau, die eine einfache, möglicherweise sogar zweifache Mörderin sein soll, irgendwie beeindruckt.
Parallel erfährt man in Rückblenden nach und nach mehr über Ellens Geschichte, darüber dass ihr Mann sehr launisch und brutal ihr gegenüber und gegen den gemeinsamen Sohn Billy war. Billy setzte das so zu, dass er jede Menge aß und nicht sprach. Und auch ihr fiel es schwer, mit Harrys Attacken zu leben. Dazu kam noch: Harrys reicher Vetter vom großen Nachbarhof wollte, dass Ellen die gemeinsamen Schulden des Paares bei ihm ableistet - mit Sex ...
So wie der Leser allmählich immer mehr über Ellen erfährt, kommt auch Gunnar der Sache ein wenig auf die Spur. Trotzdem gibt es auch für ihn noch Überraschungen, vor allem mit Blick auf den Hintergrund, warum er diesen Fall und auch das Verschwinden von Morrinder beleuchten sollte.


5. Themen
*****************
***a) Beziehungen
Beziehungen spielen in dieser Geschichte eine Rolle auf verschiedenen Ebenen. Da ist zum einen Barbarotti selber, der eine sehr enge Beziehung mit seiner Frau Marianne hatte. Gerade das macht für ihn ihren Tod so schwierig, macht ihm das Weiterleben schwer.
Eine typische „Beziehung unserer Zeit“ ist vielleicht auch die von Eva Backmann und ihrem Mann. Die Liebe ist gescheitert, er hat eine neue Frau (vielleicht so wie andere Leute sich ein neues Auto zulegen), findet das offenbar selbstverständlich und richtig, während sich Eva mit der Situation mehrfach schwer tut. Sie kommt mit der Neuen ihres Ex nicht klar, findet sie unsympathisch und unverschämt. Und unverschämt ist auch die Tatsache, dass ihr Ex möchte, dass sie weiterhin für Arbeiten an dem früheren gemeinsamen Haus zahlt, das Eva eigentlich ihm und der Neuen abgetreten hat.
Dann ist da auf Beziehungsebene Ellen Bjarnebo gleich in drei Facetten. Ihre Beziehung zu ihrem Mann Harry war eher eine pragmatische, die Liebe war kaum vorhanden (oder schnell verloren), sein Verhalten ihr und dem Sohn gegenüber war respekt- und lieblos.
Ohne echte Liebe war auch ihr Verhältnis mit Harry reichem Vetter. Auch hier ging sie eher pragmatisch vor, lies sich darauf ein, um die Schulden ihrer Familie „abzuarbeiten“.
Und letztlich war auch ihre dritte Beziehung, die zu Arnold Morrinder, keine echte Liebe. Von ihm bekam sie zwar anfangs vielleicht mehr Respekt, aber das war auch schon fast alles.

***b) Verlust des Partners
Der Blick auf diese Beziehungen zeigt schnell das Offensichtliche: Im ersten Fall, in dem von Barbarotti und Marianne, war Liebe im Spiel – der Verlust fiel ihm mehr als schwer.
Bei Eva und – auf ganz anderer Ebene - bei Ellen fehlte (am Ende) die Liebe, der Verlust war weniger schwer, Eva war sogar eher erleichtert, ihre unliebsamen Männer los zu sein.


6. Zielgruppe
********************
Dieser Barbarotti ist garantiert etwas für Fans des Ermittlers und der Hakan-Nesser Romane. Wer schon bislang das "Schicksal" von Barbarotti miterlebt und ihn sympathisch gefunden hat, der wird sicher auch diesen Roman nicht verpassen wollen.
Leider sind wir hier auch an einem schwierigen Punkt angelangt. Muss man die bisherigen Romane kennen, um diesen Teil richtig verstehen und genießen zu können. Eine Kollegin von mir würde dazu ihre Lieblingsantwort "Ja - Nein - Ja" geben. Ja, man sollte eigentlich die vorigen Bände klngen, nein es nicht zwingend, dass man die Romane gelesen hat aber: Ja, es ist doch von sehr großem Vorteil. Denn ich denke, dass man Barbaratotti und Backmann besser versteht, wenn man weiß, wie sie sich schon in der Vergangenheit entwickelt haben - nicht nur beruflich, sondern vor allem, welche privaten Höhen und Tiefen die Figuren durchmachen mussten.
Ansonsten ist der neue Nesser sicher auch grundsätzlich etwas für Freunde guter Schweden/Skandinavien Krimis. Aber auch Leute wie ich, die sonst schwerpunktmäßig eher Romane aus dem englischsprachigen Raum lesen, können mit dieser Geschichte gut leben. Das liegt wahrscheinlich nur an einer Kleinigkeit, aber an einer nicht ganz unwichtigen. Es gibt skandinvische Romane, die durch skandinavische Namen glänzen und dem deutschen Leser das Verständnis schwer machen. Wenn ich einen Namen nur holperig lesen kann, dann fällt es mir persönlich in der Regel schwer, ihn mir zu merken. Wenn ich mir die Namen im Buch aber nicht wirklich merken kann, stört das den Lesefluss, da man immer wieder mitdenken muss, wer nochmal wer ist und welche Vorgeschichte hat - und ich mag die Geschichte nur ungern weiter lesen. Nesser dagegen hat Namen, die für deutsche Leser noch einigermaßen merkbar sind. Gunnar Barbarotti ist fassbar, Eva Backmann klar, Ellen Bjarnebo zumindest mit dem Vornamen vertraut.


7. Daten zum Buch
****************************
Hakan Nesser – Am Abend des Mordes (gebundene Ausgabe)
Übersetzer Paul Berf
 Gebundene Ausgabe: 480 Seiten
 Verlag: btb Verlag (1. Oktober 2012)
 ISBN-10: 3442753171
 ISBN-13: 978-3442753178
• Originaltitel: Styckerskan från Lilla Burma

8. Pro & Contra
************************
Pro
- sehr gute Figuren
- Geschichte hat Sog
- interessante Prallelschaltung von Vergangenheit und Gegenwart

Contra
- wer noch keinen Nesser kennt, dem fehlt die Vorgeschichte.


9. Fazit
***********
Hakan Nesser hat mich mit seinem neuesten Barbarotti Fall Am Abend des Mordes überzeugt. Der schwedische Bestseller-Autor trumpft mit starken Figuren auf: Da sind unter anderem die bekannten Ermittler Barbarotti und Backmann. Beide befinden sich in privaten Ausnahmesituationen, haben Probleme zu bewältigen - und genau das gibt die Figuren Facetten, die sie interessant machen! Interessant ist auch die Geschichte, um die es geht, die ihren Sog hat. Hakan Nesser schaltet auf gute Weise die Geschehnisse der Vergangenheit und die der Gegenwart parallel. Allerdings gibt es auch einen kleinen Haken an der Sache: Der Roman mag ein Vollstreffer für Kenner der Barbarotti-Bücher sein. Einige Details versteht man aber schlecht(er), wenn man zum ersten Mal einen Fall mit Nessers Dauer-Ermittler liest. Trotzdem kann ich für das Buch gut und gerne (knappe) fünf Sterne vergeben - und natürlich auch eine Empfehlung.