Der Weg des Wassers...
Nachdem ich „Am Himmel die Flüsse“ von Elif Shafak geschrieben und aus dem Englischen ins Deutsche von Michaela Grabinger übersetzt, gelesen habe, werde ich Wasser, einen Wassertropfen, eine Schneeflocke, einen Fluss, ein Meer, die Ostsee, auch eine Träne, anders betrachten als vorher. Welchen Weg hat ein Wassertropfen wie lange hinter sich gebracht? Welche Verbindung steht hinter der Schneeflocke die mich im Gesicht kitzelt und der Vergangenheit? Welche Berührungspunkte zwischen lange verstorbenen Menschen und mir gibt es? Alleine für die Offenbarung welchen Weg ein Wassertropfen nehmen, wie alles mit allem verbunden sein kann, danke ich diesem Buch, der Autorin, dass sie es geschrieben hat.
Arthur, Narin und Zaleekhah, sind miteinander verbunden. Arthur wird 1840 in London geboren, er wächst in einem Armenviertel Londons auf, mit einer besonderen Gabe, alles was Arthur jemals gehört, gelesen, gesehen hat, wird er nicht mehr vergessen. Narin ist im Jahre 2014 neun Jahre alt, wächst bei ihrer Großmutter in der Türkei am Ufer des Tigris auf, ihre Mutter lebt nicht mehr, ihr Vater ist viel auf Reisen, Narin wird ihr Gehör verlieren und bevor das geschehen sein wird, möchte Narins Großmutter sie taufen lassen, mit ihr ins heilige Lalis-Tal in den Irak fahren. Im Jahre 2018 am Ufer der Themse trennt sich Zaleekhah von ihrem Mann, zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus und in ein Hausboot ein. Zaleekhah erforscht das Wasser, sie ist bei ihrem Onkel und ihrer Tante aufgewachsen, nachdem ihre Eltern ums Leben kamen, es um gibt sie eine Melancholie, eine Traurigkeit, die Frage wie andere Menschen es schaffen auch nur für einen Moment glücklich zu sein…
„Am Himmel die Flüsse“ ist ein Buch, dass bei mir bleiben wird, es fühlt sich an, als seien Arthur, Narin und Zaleekhah ein Teil von mir geworden. Sie kamen mir nah, an vielen Stellen des Romans auch zu nah, so dass ich die Lektüre unterbrechen wollte, langsam voran kam. Dieses Buch ist sehr reich an Schicksal, an Verbundenheit, Einsamkeit, tiefe und große Traurigkeit. Menschen kämpfen ums Überleben. Sie suchen ihren Platz im Dasein und im Wandel. Sie sind der Geschichte, den politischen Verstrickungen und ihrer Herkunft ausgesetzt. Ihnen werden unüberwindbare Grenzen aufgezeigt. Sie wollen leben. Sie wollen ihren Platz in ihrem Leben finden. Dieses Buch zeigt auf, was Menschen anderen Menschen antun können, zu welch schrecklichen und menschenverachtenden Verhalten Menschen fähig sein können und es zeigt auf, wie abhängig die Entwicklung und das Leben eines jeden Menschen davon ist, in welches Land, in welche Gesellschaft, in welche Religion und in welche Familie er hinein geboren wurde. Zur gleichen Zeit, als Arthur geboren wurde, kam das erste Kind von Queen Victoria und Prince Albert zur Welt, der gleiche Geburtstag, die gleiche Geburtsstadt und die Startbedingungen könnten unterschiedlicher nicht sein. Und so passiert es noch immer, Tag für Tag, Stunde für Stunde und es ist so vielen Menschen nicht bewusst, dass ihr Leben ganz anders hätte verlaufen können, wenn sie in eine andere Familie, ein anderes Land, eine andere Religion hinein geboren wären.
Das ihre Entwicklung nur bedingt etwas mit Können und Fähigkeiten zu tun hat, denn um das Ausleben von Fähigkeiten braucht es die entsprechenden Bedingungen. Und wenn es die nicht gibt, dann braucht es jemanden von Außen der hilft und unterstützt, der hinsieht, erkennt und neue Möglichkeiten aufzeigt und ermöglicht. Wäre Arthur zur bestimmten Zeit gewissen Menschen nicht begegnet, wäre sein Leben in eine andere Richtung verlaufen.
„Am Himmel die Flüsse“ ist kein unterhaltsames Buch. Es ist ein Buch, das tief von der Oberfläche abtaucht, dass Verbindungen und Zusammenhänge aufzeigt, mit dem man von der Gegenwart in die Vergangenheit reist, von der Themse an den Tigris zu unterschiedlichen Zeiten. Der Orient und die westliche Welt, lange vergangene mit der jüngsten Geschichte und der Gegenwart verknüpft. Ein Buch das menschliches Leid aufzeigt, dass sich viele Menschen nicht vorstellen können. Ein Buch das tief berührt und die Leser*innen emotional erschüttert zurück lässt. „Am Himmel die Flüsse“ ist eines von den Büchern, die verstehen lassen, wenn man verstehen möchte, nach dessen Lektüre man nicht sagen kann, dass man nichts gewusst hätte. Für mich ist dieses Buch, das beste von Elif Shafak, es kommt mir wie eine Quintessenz ihrer anderen Bücher vor und ich bin sehr dankbar dafür, dass sie es geschrieben hat, schreiben konnte, die Kraft und Energie dafür finden konnte. Eine der größten Leseempfehlungen von mir für „Am Himmel die Flüsse“ von Elif Shafak.