Eine mutige Erzählerin

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mirko Avatar

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Nach „Unerhörte Stimmen“ war am Himmel, die Flüsse der zweite Roman von Elif Shafak, den ich in diesem Jahr gelesen habe. Erneut beweist die türkischstämmige Autorin, dass sie eine große und mutige Stimme der europäischen Literatur ist.
In drei großen und einem kleinen Handlungsstrang, ganz zu Beginn, erzählt sie die Geschichte von Menschen, deren Schicksal eng miteinander verbunden ist. Und das, obwohl sie zum Teilen in verschiedenen Jahrhunderten leben. Die Verbindungen der einzelnen Geschichten treten erst nach und nach zutage, zum Teil sogar erst gegen Ende des Buchs. Ein omnipräsentes Bindeglied ist dabei das Wasser. Wasser oder auch H2O steht für Leben, für Beständigkeit, für Natur, für den Ursprung unseres Lebens uvm. Die Autorin nutzt es als Verbindungselement, welches die Zeit überdauert, da es unverwüstlich ist. Und sie erzählt die Geschichte des alten Mesopotamien.
Mit ihrer fiktiven Geschichte, die unzählige reale Elemente enthält, hat sie mir eine Welt gezeigt, in die ich bisher wenig Einblicke hatte. Vom assyrischen Reich bis hin zu den Genoziden der jüngsten Geschichte lässt Shafak nichts unausgesprochen. Gerade dieser Mut hat sie bereits in „Unerhörte Stimmen“ ausgezeichnet. Hier tritt er noch viel stärker zutage, denn sie setzt sich weder politische noch menschenrechtliche Grenzen. Und genau das ist die größte Stärke des Romans. Man spürt die Leidenschaft, mit der die Autorin schreibt, mit jeder Faser. Damit ist sie definitiv eine der mutigsten Erzählerinnen unserer Zeit.
Es ist immer schwer, einen mit Herzblut und Leidenschaft geschriebenen Roman zu kritisieren. Dennoch will ich zumindest zwei kleine Punkte nicht unerwähnt lassen: Da ist zum einen die Sprache, die typisch für einen modernen Roman ist. Auch wenn Shafak extrem talentiert ist und hervorragend mit Wörtern umzugehen weiß, kann sich die literarische Qualität nicht von anderen jungen Romanen bekannter Autoren absetzen. Mein zweiter Kritikpunkt ist die Vielzahl von Themen, die sie in den Roman einbindet und miteinander zu verweben versucht. Das gelingt ihr zwar weitestgehend, aber an der schieren Menge droht die Erzählung an der ein oder anderen Stelle beinah zu ersticken. Der Leser wird teils unerwartet in immer neue Vorgänge hineingeworfen und ist enorm gefordert, wenn er all dies sinnvoll verarbeiten will. Letztlich gelingt der Autorin m.E. aber dieser Balanceakt dennoch und sie hält die Geschichte beieinander.
Fazit: Elif Shafak hat einen mutigen, von Liebe zu dem, was sie tut, geprägten Roman geschrieben. Er ist leicht lesbar und entfaltet dennoch eine große Tiefe. Und das vor allem, weil sie sich vieler großer Themen annimmt, welche die Geschichte der Kultur des Nahen Ostens in den letzten Jahrhunderten wie in jüngster Zeit geprägt haben. Das erfordert Mut, und den hat sie. Und gleichzeitig bewegt sie damit die Leser, was ein schmaler Grat ist, den sie aber gut meistert.