Die Überlebende

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amara5 Avatar

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Das erschütternde und bereits vor 20 Jahren veröffentlichte Debüt der mit Preisen ausgezeichneten, nordirischen Autorin Anna Burns über eine Belfaster Kindheit während der brutalen Troubles erscheint nun auf Deutsch. Das düstere Heranwachsen des Mädchens Amelia Boyd Lovett unter den finsteren, bürgerkriegsähnlichen Zuständen des jahrzehntelangen Nordirlandkonflikts im gebeutelten Land trifft mit all seinen lebenslangen Konsequenzen tief ins Mark.

Amelia wächst mit ihrer Familie im Nord-Belfaster Stadtteil Ardoyne auf, der später den traurigen Rekord für tödlich Verletzte erlangen sollte – sie ist fünf Jahre alt, als im Jahr 1969 die Unruhen beginnen. Doch auch zuhause in der Familie geht es gewaltvoll zu und Burns folgt Amelia episodenhaft bis zum Jahr 1994 über das schwierige Jugendalter hinaus, wenn sie mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen hat. Selbst als Amelia Belfast den Rücken kehrt, kehren die Dämonen der Vergangenheit auch in London in den Träumen zurück.

Aus verschiedenen Perspektiven und sprunghaft in der Zeitschiene, zwischen Grausamkeit, Ironie und skurrilem Humor zeichnet die Autorin feinfühlig und drastisch ein von Gewalt geprägtes Leben – erschreckende, humorvolle und tiefgründige Szenen wechseln sich ab, wenn die Schulfreunde zwischen Leichen Gummigeschosse an Soldaten verkaufen und abartige Gewaltspiele fabrizieren, während sie auf ein bisschen Normalität bei ihrem trostlosen Heranwachsen zwischen Bürgerkrieg, Schulalltag und Kinderstreichen hoffen. Und überall im familiären Umfeld gibt es auf einmal Menschen, die bei Schießereien oder bei Autobomben-Anschlägen sterben – oft flüchten sich die Heranwachsenden in Drogen und Alkohol, werden selbst gewalttätig und drogensüchtig. Irgendwann schließen sich die Meisten der IRA oder einer anderen gewaltvollen Gruppierung an.

Anna Burns Schreibstil ist messerscharf, unerbittlich, unsentimental und wechselt präzise zwischen absurden und schockierenden Momenten, zwischen Alltäglichem und Unerträglichem sowie zwischen Zartheit und tiefem Schmerz – Burns selbst wuchs Anfang der 1960er-Jahre in Belfast auf und weiß, wovon sie schreibt. „Amelia“ liefert ein kluges, mutiges und teils schwer zu greifendes, fragmentarisches Porträt einer Kindheit und Jugend im Krieg und über das tiefe, generationsübergreifende Trauma eines ganze Landes – erschütternd aktuell, nicht leicht zu lesen (die Härte der Themen sowie der experimentierfreudige Erzählstil) und doch faszinierend-grotesk umgesetzt. Nicht die historischen Details des Nordirlandkonflikts stehen im Vordergrund, sondern die persönlichen und schonungslosen Schicksale dahinter.