Intensives, brutales politisch-unpolitisches Drama über den Nordirland-Konflikt

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alekto Avatar

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Amelia Boyd Lovett ist erst acht Jahre alt, als im Jahr 1969 die Troubles in Nordirland beginnen. Amelia lebt mit ihrer katholischen Familie in Ardoyne im Norden von Belfast. Ihr Pa Tommy ist oft abwesend, da er zur See - bis runter nach Südamerika - fährt. Ihre Ma Mariah, genannt Riah, ist zu der Zeit schwanger, so dass die Familie noch um Amelias kleine Schwester Josie wachsen wird. Ihre älteren Geschwister sind Mick und Lizzie.
Amelia ist anders als der Rest ihrer verrückten Familie, da sie sich weder prügeln noch schlagen will und physischen Konflikten lieber aus dem Weg geht. Dabei hat Amelias Ma ihren Kindern von kleinkindauf ihre Kampfregeln eingetrichtert, die Amelias Geschwister längst verinnerlicht haben. Denn diese besagen in detaillierten Fallunterscheidungen, wie in einem jeden Kampf vorzugehen wäre. Und Amelias Ma reißt ihrer Schwester Mrs Lavery im Streit schon mal büschelweise die Haare aus und einen Teil der Kopfhaut gleich mit, um den Skalp dann stolz als Trophäe ihres Sieges durch die Gegend zu tragen.
Amelia hingegen spielt lieber mit ihren Freunden Bossy, Vincent, Bert (Roberta), Fergal, Bernie (Bernadette), Mario und Sebastian oder mit ihrer Raupenschar. Sie mag Gedichte über Klein Ethelred, die sie auswendig lernt, und sammelt Schätze, die sie in einem alten Koffer hortet. Dazu gehören etwa verschiedene Knöpfe, ein kleines Plastikschaf, eine schwarze Königin, ein getrockeneter Seestern und viele Lutscherstiele, die sie sorgfältig zählt - sowie ein Granatsplitter. Ihr größter Schatz sind aber die 37 mühsam zusammengetragenen Gummigeschosse.

Amelia wird in kurzen Kapiteln, die Titel wie "Schatzkiste", "Der pragmatische Einsatz von Waffen" oder auch "Die kleinste Unaufmerksamkeit" tragen und zudem mit Jahresangaben übrschrieben sind, erzählt. Der Roman, der weniger eine zusammenhängende Geschichte, sondern vielmehr eine Aneinanderreihung verschiedener Szenen darstellt, erstreckt sich über einen Zeitraum vom Jahr 1969 bis zum Jahr 1994. Die dabei entstehenden zeitlichen Lücken werden selten geschlossen.
Auch tauchen viele Nebencharaktere in insgesamt nur wenigen Kapiteln des Romans auf, so dass deren Lebensgeschichte nur unvollständig erzählt wird und dabei viele Fragen offen bleiben. Anna Burns ist jedoch das Kunststück geglückt, dass ich über das durch diese Erzählweise bedingte recht umfangreiche Figurenarsenal von Beginn an gut den Überblick behalten habe. So wie über James Tone - der Cousin der Lovetts - der bei der britischen Armee in Belfast stationiert ist, oder auch Mary Dolan, die in jungen Jahren ihr totes Baby in einem Puppenwagen tagein, tagaus durch die Straßen von Ardoyne schiebt, um nur einige der vielen Nebencharaktere zu nennen.

Der Schreibstil von Anna Burns zeichnet sich durch einfach gebaute, klare Sätze aus, obwohl sich die darin enthaltenen Beschreibungen oft in ausufernden Details verlieren, die die Autorin gern zu langen Aufzählungen aneinanderreiht. Das verleiht ihrer Erzählweise einen ganz eigenen Stil. Zudem sind viele Gespräche von Wiederholungen geprägt, die sich die Gesprächspartner gegenseitig an den Kopf werfen.
Die allgegenwärtige Gewalt schlägt sich in diesem Roman in vielen blutigen und grausamen Szenen nieder, die explizit von Anna Burns geschildert werden. Auch wegen dieser Szenen vermittelt dieser zweite Roman der Autorin ein gleichermaßen erschütterndes wie eindringliches Porträt des Nordirland-Konflikts. Dabei konzentriert er sich darauf, in diversen Szenen aufzuzeigen, wie der allgegenwärtige Konflikt Leben und Charakter der Menschen prägt, da Gewalt und Brutalität für sie so normal geworden sind, dass diese kaum mehr der Rede wert sind. Und dass diese Gewalt auch vor Kindern nicht Halt macht, lässt diesen Roman beim Lesen oft schwer erträglich werden. Ähnlich intensiv sind Anna Burns die Kapitel gelungen, die aus Sicht von psychisch kranken - etwa schizophrenen - Personen geschildert sind, da sich diese Kapitel in deren Wahnvorstellungen verlieren. Realität und Einbildung werden derart verwoben, dass es auch als Leser an vielen Stellen schwierig wird, diese voneinander zu unterscheiden.

Amelia ist ein intelligentes, komplexes Buch, das nur vordergründig unpolitisch zu sein scheint. Explizit politisch wird es zwar selten, Begriffe wie IRA, INLA und RCU, die dann auch nicht erklärt werden, fließen eher wie nebenher in die Erzählung ein. Da der Roman kein entsprechendes Glossar beinhaltet, sollte beim Leser jedoch zumindest ein Grundwissen über das Wording den Nordirland-Konflikt betreffend vorhanden sein.
Amelia ist ein Roman, der jenseits der Brutalität, die vordergründig in vielen Szenen zur Schau gestellt wird, ein vielschichtiges Bild von Amelia und ihrem Umfeld zeichnet. Dabei fokussiert sich der Roman auf die Beschreibung dessen, wie sich die Gewalt in Amelia, ihre Familie und Freunde einbrennt, indem der allgegenwärtige, Jahrzehnte währende Konflikt nach und nach in ihr Leben sickert, und wie sich dies auf sie, ihre Entwicklung und ihren Charakter, aber auch ihren Umgang mit und ihre Beziehung zu anderen Menschen auswirkt.