Irisches Trauma

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stricki Avatar

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Ich hatte einen Roman über den Nordirlandkonflikt aus der Sicht eines kleinen Mädchens, Amelia, erwartet. Ich dachte, wir erfahren, wie es ihr und ihrer Familie ergangen ist während der Troubles, was zwischen den protestantischen und katholischen Nachbarn damals abgegangen ist. Und natürlich was es mit der Familie gemacht hat.

Dabei schwebte mir eine ähnlich intensive, rauhe Geschichte wie bei Shuggie Bain vor, dass zur gleichen Zeit im von Armut gebeutelten Schottland spielt.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Die Geschichte um Amelia wirkte auf mich sehr unzusammenhängend. Leider!

Sie beginnt stark mit dem Start der Troubles, mit einer Horde Rotzgören, die "Kriegsbeute" einsammelt, und in einer heftigen Zeit groß werden muss. Eine Zeit die geprägt ist von Armut, Alkohol, Gewalt.
Dann tauchen mit jedem Kapitel neue Figuren auf, und bald schon verlor ich den Überblick. Jamesey, Mary, Bronagh, Mick, Vincent, jede Menge Eltern, Geschwister, Verwandte, Freunde und Feinde.
Dazu Hungerstreiker, Shankills, Ulster, Provies, IRA, RUC ... etwa nach einem Drittel habe ich angefangen, mich im Internet über die Hintergründe schlau zu machen, um nicht völlig abgehängt zu werden. Das hatte ich mir eigentlich vom Buch versprochen, mehr über die IRA und den Nordirlandkonflikt zu erfahren, aber das Grundwissen musste ich mir extern besorgen. Ein Glossar o.ä. am Buchende hätte ich begrüßt.

An dieser Stelle möchte ich eine Warnung aussprechen an sensible Menschen.

Das Buch wird zunehmend gewalttätiger, blutiger, sexueller. In diesem Buch kommen viele Menschen zu Tode, Kinder erleben Gewalt durch die Eltern, Erwachsene dreschen mit allem möglichen aufeinander ein, bis zum Tod. Sexuelle Szenen sind teilweise derbe und unangenehm. Die meisten trinken, um zu vergessen, andere drehen ab. Oder auch beides. Und viele Waffen, Schüsse, Bomben, Überwachung, Terror.

Ich vermisse ein Gegengewicht. Das ist hier echt viel Elend und Blut und nichts anderes weit und breit.

Ich vermisse einen roten Faden.

Amelia wird schnell älter und versucht, den Ort ihrer harten Kindheit hinter sich zu lassen, ihre Alpträume. Amelia und ihre Freunde versuchen ein normales Leben zu leben. Was nicht einfach ist unter diesen Umständen.

Ich muss sagen, ich liebe die Sprache von Anna Burns. Die Art, wie sie Dinge doppelt, ist genial: "... daher verkündete Schwester Mary Fatima, die nichts davon hören wollte, daß sie nichts davon hören wollte."(S.96)

Bei einem anderen, weniger krassen Thema, muss es ein großer Genuss sein, diese Sprache zu lesen.