Irland ist auch mitten in Europa.

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Ukrainische Flüchtlingskinder können in Deutschland ihre Schule online fortführen, wenn sie es denn nach Deutschland schaffen und die Lehrer in der Ukraine die Bomben überleben.
Irische Kinder hatten keine Fluchtmöglichkeit. Bomben, Scharfschützen, niedergebrannte Häuser waren ihre Normalität. Wenn man von 1969 bis 1994 im Krieg lebt, 25 Jahre lang nichts als Tod und Terror erlebt, dann verrohen die Menschen, verlieren ihre Menschlichkeit, werden zu Bestien, verlernen das rationale Denken. Wir begleiten Amelia Burns durch ihre Kindheit, Jugend und Teil ihres Erwachsenenalters. 1989 schafft sie endlich den Absprung und fährt nach London. Doch der Krieg lässt sie nicht los. Wie so viele anderer Kriegsmädchen leidet sie an Alkoholsucht, Anorexie, ihre im Krieg getöteten Freundinnen und Geschwister verfolgen sie, werfen ihr vor, weshalb Amelia noch lebe, wenn sie doch tot seien.
Wie erbarmungslos muss eine Gesellschaft sein, wenn fünf Vierzehn- bis Fünfzehnjährige befohlen wird sich an einem Ort einzufinden, damit ihnen die Kniescheiben zerschossen werden, für ihre Straftaten? Und die Kinder finden sich auch tatsächlich da ein, vier von Ihnen werden beide Kniescheiben zerschossen, der fünfte wird mit einer leichten Wunde an der Wade begnadigt, nur um nachher doch noch seinen Tod zu finden.
Wie brutal kann eine Gesellschaft werden, wenn ein junger Mann vom eigenen Cousin hinterrücks erstochen wird und ihm die Uhr geklaut wird? Eine Uhr die der junge Mann ihm freiwillig geben wollte und um die Familie nicht in Gefahr zu bringen wollte er sie in Zivilkleidung besuchen, nicht in Uniform.
Wie hartherzig und gewalttätig kann eine Gesellschaft sein, wenn eine Frau, Mutter von sechs Kindern, zuerst Sex haben muss, egal mit wem, um danach in Ruhe andere Menschen töten zu können? „Die Einstimmung auf einen Mord, das wird jeder bestätigen können, fordert ihren Tribut, und Bronagh war da keine Ausnahme. Glücklicherweise hatte ihr Unterbewusstsein ein Gegengift entwickelt. Bevor sie jemanden umbrachte, brauchte sie lediglich ein wenig zwangsgestörte menschliche Nähe, und das zwangsgestörte Mittel der Wahl war für Bronagh dominanter und sehr schneller Sex.“ (S. 264)
Und als der Frieden endlich da ist, wissen sie nicht, was mit sich machen, die Überlebenden. Ein banaler Tagesausflug wird zur Sensation, den zuerst alle ablehnen und dann vehement einzufordern. Es ist interessant, auf diesem Tagesausflug auf eine kleine Insel, Rathlin, begegnen ihnen auch vom Krieg gezeichnete Menschen: Fremde sind nur im Laden willkommen, ansonsten werden sie angefeindet. Sie haben sich so lange abgeschottet, dass sie in Fremden Feinde sehen. Aber auch die Lovett Familie, die diesen Tagesausflug unternimmt, kann den Tag nicht richtig genießen, bis sie nicht erst streiten: „Um sich entspannen zu können, mussten sie erst streiten“ (S. 377). Vielleicht gehört das auch zum Friedensprozess.
Ich frage mich, wie damals, 1648, nach dem Dreißigjährigen Krieg, der Friedensprozess vor sich ging? Wann begannen die Menschen endlich an den Frieden zu glauben?
Ohne Pathos, schlicht und nüchtern erzählt uns Anna Burns aus Amelias Sicht über das veränderte Leben. In der Kindheit waren es Raupen, niedergebrannte Häuser, Papierpuppen, erschossene Menschen - alle haben den gleichen Stellenwert. Später sind es dann Freunde, Geschwister, niedergebrannte Häuser, erschossene Menschen, Bomben. Dies ist ein Kriegsbericht aus erster Hand, eindringlicher und schärfer als Antonia Rados ihn je vorbringen könnte