Ein wichtiges Thema, leider oberflächlich umgesetzt.

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madame klappentext Avatar

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Inhalt: Lydia verliert bei einem Kartellangriff auf ihre Familie fast alle wichtigen Menschen in ihrem Leben. Einzig ihr Sohn Luca bleibt unverletzt. Jetzt müssen beide ihr gewohntes Leben hinter sich lassen und die Reise aus Mexiko gen Norden antreten, um in den USA Sicherheit zu finden. Dafür müssen sie eine gefährliche Reise voller Gefahren und Entbehrungen auf sich nehmen.

Leseeindruck: Die Geschichte beginnt sofort rasant und voller Action, so dass die Spannung gleich recht hoch ist. Leider kann dieses hohe Niveau nicht über den gesamten Roman gehalten werden. Man spürt zwar die Gefahr, in der sich Lydia und Luca befinden, stumpft aber auch gleichzeitig dagegen ab, weil sie einfach immer in Gefahr sind. Noch dazu ist der Stil recht langatmig, denn anstelle einer aufregenden Flucht, bremsen die ausufernden Beschreibungen und besonders Aufzählungen das Geschehen. Ich glaube 200 Seiten weniger hätten der Story nicht geschadet.
Die Story an sich hat mir gut gefallen und es ist auch wichtig, dass Migrantengeschichten Raum bekommen, um auf deren Situation aufmerksam zu machen. So vieles war mir vorm Lesen überhaupt nicht bewusst: die Straßensperren, die es überall gibt, der Güterzug „la bestia“ als einzige Möglichkeit der Fortbewegung oder auch die Willkür der verschiedensten Staatsbeamten. Es hat mich erschreckt zu sehen, wie ausgeliefert die Menschen doch sind, da es kaum möglich ist, das eigene Schicksal in der Hand zu behalten. Genau diese Einzelschicksale sind es auch, die mich bewogen haben, das Buch bis zum Ende zu lesen. Es sind Menschen, die es verdient haben, gehört zu werden. Dabei reicht das Spektrum von Studenten, jungen Mädchen, die vor Gewalt fliehen bis hin zu Arbeitern, die einfach mal auf „Heimaturlaub“ waren, und eben Lydia und Luca, die vor einem Kartell fliehen. Der Focus liegt durchweg auf den Migranten und da besonders auf Lydia. Die Perspektive der Kartelle oder auch Schlepper bleibt dabei völlig außen vor. Auf der einen Seite ist diese Gewichtung nachvollziehbar, andererseits hätte eine zusätzliche Sichtweise für Spannungspunkte sorgen können. Wie nah ist das Kartell an Lydia dran? Welche Kontakte werden im Hintergrund geknüpft, um an Lydia heranzukommen?
Mir ist bewusst, dass das Thema vielschichtig und komplex ist, allerdings will die Autorin zu viel. Dabei kratzt sie zwangsweise nur an der Oberfläche der Probleme und was mich noch mehr gestört hat: Es werden unglaublich viele Klischees bedient. Da reicht ein vermeintlich schöngeistiger Kartellboss nicht aus, um charakterliche Tiefe herzustellen. Ganz im Gegenteil. Gerade Javiers Figur wirkt sehr konstruiert. Die charakterlichen Entwicklungen sind alle sehr vorhersehbar, was wiederum schlecht für die Spannung ist. Einzig El Chacals Charakter zeigt ein wenig Facetten und bedient nicht ausschließlich Klischees.
Die Autorin hat Mut bewiesen, dass sie sich diesem schwierigen und emotional aufgeladenem Thema gewidmet hat. Etwas von diesem Mut hätte sie in die Entwicklung der Story stecken können. Es passiert einfach zu wenig Unvorhergesehenes.

Lieblingsnebencharakter: Lydia und Luca lernen auf ihrer Reise viele sympathische, zwielichtige aber auch aufrichtige Charaktere kennen. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir Beto. Ein Junge, der ganz auf sich allein gestellt ist und sich gern hinter seinem Selbstbewusstsein versteckt. Er ist einer der wenigen Charaktere, dessen Schicksal berührt und eben auch überrascht.

Fazit: Ein Buch über den Mut der Verzweiflung und den Weg in die vermeintliche Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika. Migranten stehen mit ihren individuellen Schicksalen und nicht als anonyme Masse im Mittelpunkt der Geschichte. Leider fehlt es der guten Ausgangssituation an Tiefgang. Trotzdem ist es solide Unterhaltung zu einem wichtigen Thema.