Zeitreise in eine turbulente Pariser Epoche

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Agnès Poirier legt mit ihrem Buch eine hervorragend recherchierte Kulturgeschichte vor.
Die Darstellung beginnt 1938 - Europa am Vorabend des Krieges -, führt über die Schmach der Besatzung, den Aufstieg von Paris zur Welthauptstadt der Kunst und Philosophie nach dem 2. Weltkrieg und endet 1949 mit dem Marshall Plan, der dem Kontinent helfen soll, wieder auf die Beine zu kommen.

Die ausgewählte Dekade ist eine höchst spannende und turbulente Sie sah zwei französische Republiken und eine Besatzung, den Aufstieg des Kommunismus, den Beginn des Kalten Krieges und den Krieg in Indochina.
Allerdings ist der erste Teil der geschilderten Dekade, in die die deutsche Besetzung und der Krieg fallen, mit dem Begriff „magisch“ mit Sicherheit nicht gut beschrieben. Als positive Elemente treten da eher die Geschichten über die Résistance hervor. Da passt der englische Titel des Buches („Left Bank: Art, Passion, and the Rebirth of Paris, 1940-50“) über Kunst, Leidenschaft und die Wiedergeburt von Paris besser.

Agnès Poirier nimmt ihre Leserschaft förmlich an die Hand und streift mit ihm am linken Seineufer von Paris entlang. Man darf sich sozusagen als Zeitreise-Tourist fühlen. Der Autorin gelingt es durch ihre lebhafte Darstellung und den Reichtum an bildhaften Anekdoten, dass wir die Personen vor Augen haben.

Um dem Buch eine chronologische Ordnung zu geben, folgt sie dem Leben der verschiedenen Künstler, Schriftsteller, Musiker, Herausgeber, Kunstverwaltern, Schauspieler, meistens Franzosen und Amerikaner, ihren Zugehörigkeiten und Intrigen untereinander.
Sie entwirft dabei geschickt eine Collage von Bildern, eine Art von Kaleidoskop verschiedener Schicksale, die sie aus Memoiren, Geschichten, Biographien und eigener fleißiger Recherche zusammengewebt hat.

Während einige der Charaktere auf ihrer illustren Besetzungsliste (von Jean Cocteau, Henry Miller, Miles Davis, Alberto Giacometti, bis Ernest Hemingway, von Simone Signoret, Juliette Gréco  Coco Chanel, Sylvia Beach bis Adrienne Monnier) kleinere Rollen einnehmen, haben andere größere Hauptrollen zugewiesen bekommen, vor allem Sartre, de Beauvoir, und Camus, einschließlich ihrer zahlreichen LiebhaberInnen.

In das Jahrzehnt 1940 bis 1950 fiel die Veröffentlichung einiger der einflussreichsten Bücher  des 20. Jahrhunderts, die alle in Paris geschrieben wurden: z.B. J.-P.Sartres „Das Sein und das Nichts“, das den Philosophen berühmt machte, S. de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“, welches die Bibel des Feminismus wurde, A. Koestlers „Sonnenfinsternis“, die bittere und desillusionierte Abrechnung mit dem Kommunismus, und Samuel Becketts ikonischem Theaterstück „Warten auf Godot“.

Auch wenn sich diese Autoren in Cafés, Restaurants oder im Theater trafen und ihre Gedanken austauschten, diskutierten sie ihre Ideen in gedruckter Form in den Zeitschriften „Les Temps Modernes“ (gegründet von Sartre und de Beauvoir) und „Combat“ (hrsg. von Camus). Sie lebten in billigen Hotelzimmern oder trostlosen kleinen Wohnungen, wo sie eh nur selten anzutreffen waren.

Nach dem Krieg zog das freizügigere, liberalere Leben vor allem viele Künstler aus dem prüden Amerika an. Paris bekam Kultstatus durch die Philosophie, moderne Strömungen in Kunst und Musik, die französische Lebenskunst und nicht zuletzt  sexuelle Abenteuer.

Fazit
Poirer hat in diesem Buch eine beeindruckende Materialmenge verarbeitet und die Schilderungen mit einer Vielzahl von Fußnoten belegt. Eine Karte des beschriebenen Viertels von Paris und ein Register runden die Informationen ab.

Bei der Darstellung des turbulenten Jahrzehntes werden komplexere politische Zusammenhänge nicht vertieft.  Dafür greift die Autorin mit Genuss hinein in die Fülle von Philosophie, Politik, Theater, Film und Kunst und mischt kleine Geschichten unter. Gelegentlich schweift sie dabei auch ein bisschen ins klatschhafte Element ab.

Kein Wunder, dass gerade diese kleinen Anekdoten nach dem Lesen im Gedächtnis hängen bleiben. Ein paar Beispiele:

Mehr hätte ich gern über Jacques Jaujard erfahren, der als Beamter der Kunstverwaltung förmlich in letzter Minute vor der Besetzung durch das nationalsozialistische Deutschland die Kunstschätze des Louvre rettet und versteckt.

Oder: im August 1943 merkte man im Verlag Gallimard, dass sich der 700 Seiten starke Wälzer von Sartre „Das Sein und das Nichts“ unerwartet gut verkaufte. Hatte die Pariser Bevölkerung ein großes Bedürfnis nach philosophischen Themen unter der Besatzung der Nazis? Nein, das Buch wog exakt ein Kilogramm und konnte so in den Haushalten die auf dem Schwarzmarkt verkauften Kupfergewichte ersetzen.

Als  Hemingway in Paris mit den alliierten Befreiern im August 1944 in Paris ankam, fuhr er im Jeep bei Picassos Studio vor. Da er niemanden vorfand, hinterließ er eine Karte „Für Picasso von Hemingway“ und eine Kiste mit Handgranaten.

Der später Literaturnobelpreisträger Saul Bellow erreichte Paris 1949 eher in miesepetriger Stimmung. Während seine Kollegen ihren Spaß hatten sind seine amerikanischen Ressentiments gegen die französische Lebensart stärker, so dass er im Lästern verharrt.

Man sollte allerdings beim Lesen im Bewusstsein haben, dass der Focus von Poirier auf einer Gruppe von Menschen liegt, die eher zur Elite des Landes gehört. So bejubelt sie die Art und Weise wie Dior nach dem Krieg wieder Glamour, Luxus und eine neue sexy Silhouette einführte. Die Hollywoodstars wollten nun nur von Dior eingekleidet werden. Ein Luxus, der nur einer ganz kleinen Minderheit der Bevölkerung zugänglich war.

Poiriers Buch ist wundervoll geschrieben und höchst vergnüglich zu lesen. Dabei ist das feine Lesebändchen in den Farben der französischen Nationalflagge, der Trikolore ein ganz besonderes Bonbon.