Ein misslungenes aber dennoch vielversprechendes Buch

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Rezension zu: Ancora - Die Zeit ist gegen dich

Prämisse:

Die achtzehnjährige Romy verbringt mitsamt zweier Freunde – Aurel, ihrem festen Freund und Jannis – ihre Sommerferien in Ancora, einem abgeschieden, völlig von der modernen Gesellschaft abgeschottetes, Dorf ohne Strom oder Mobilfunk. Was eigentlich eine Art Paarteraphie für sie und Aurel werden sollte, entpuppt sich schon bald als gefährlich, denn nachdem Ronny ein Gedicht ihrer Mutter findet, welches viele Ereignisse – darunter auch ihren Tod – prophezeit und sich mehrere mysteriöse Dinge ereignen ist Romy gezwungen sich in die Vergangenheit des Tals zu begeben um Antworten zu finden und sich vor dem verfrühten Tode zu bewahren.

Ich möchte zu Beginn darauf Hinweisen, dass die folgende Rezension Spoiler enthält. Wer also das Buch unbefangen genießen möchte, sollte die Bewertung gnorieren und um Fazit übergehen.

Bewertung:

Beginnen möchte ich meine Rezension mit einem Lob des Konzepts, Ancoras Prämisse ist unverbraucht, interessant (besonders das prophetische Gedicht hat im Voraus mein Interesse geweckt) und bietet viel Potential für eine spannende und tiefgründige Handlung. Auch die Intention des Autors, Jugendliche wieder mehr zum Lesen animieren zu wollen, ist äußerst lobenswert. Fortfahren möchte ich mit den „technischen“ Aspekten des Buches. Ancora ist in drei, mit einem Titel versehen, Teilen, separiert welchen ein Prolog vorausgeht, was mir sehr zusagte. Die Kapitel sind kurz was den Lesefluss erhöht. Diese Aspekte sind meiner Ansicht nach sehr gelungen. Auch der Schreibstil ist für einen derart jungen Autor nicht zu verachten. Colin Hadler gelingt es immer wieder seine Geschichte mit originellen Formulierungen und guten Zitaten zu versehen. Leider jedoch mangelt es dem Schreibstil an einer gewissen Eindringlichkeit, die besonders für derlei Bücher (Thriller mit vielen psychologischen Elementen) meiner Ansicht nach verbindlich ist. Auch die sonstige Inszenierung des Buches ist beklagenswerterweise eher misslungen. Colin Hadler scheitert daran dem Leser erinnerungswürdige Szenen oder auch nur besonders gut inszenierte Spannungsszenen zu kredenzen, was auch dem allgemeinen Spannungsniveau eher abträglich ist. Allgemein ist die Spannungskurve von Ancor eher unstetig und eher flach. Ebenfalls sauer aufgestoßen sind mir zwei Cliffhanger – darunter auch jener welcher sich auf der Umschlaginnenseite befindet – deren Auflösung sich als harmlos herausstellt, womit für mich offensichtlich ist, dass sie nur dem Zwecke dienen die Spannung zu erhöhen ohne etwas für die Geschichte zu tun. Das ist meiner Ansicht nach billig sowie unwürdig und sollte in dem Verzeichnis literarischer Stilmittel unter den Obergriff „Anwendung strengstens verboten“ fallen. Doch dies alles ist leider nur die Spitze des Eisbergs. Bereits am Anfang begeht Colin Hadler einen großen Fehler. indem er den Startpunkt der Handlung auf die Fahrt nach Ancora setzt und viele für die Handlung wichtige Informationen betreffs der Figuren und der Figurenkonstellation, im Nachhinein durch seine Hauptfigur erzählt. Meiner Meinung nach hätte er besser daran getan die Handlung früher zu beginnen und sich etwas Zeit zu nehmen die eben genannten Informationen aufzuzeigen. Besonders Aurel und Jannis leiden sehr unter diesem Fehler.
Die beiden haben das Potential vielschichtige und hochinteressante Nebenfiguren zu sein. Während Aurel als unspontan und mit einem Bedürfnis nach Kontrolle dargestellt wird, präsentiert das Buch Jannis als einen etwas unvernünftigen Jungen, der zudem durch den lieblosen Erziehungsstil seiner reichen Eltern eine Abneigung gegen Geld und Privilegien vorstellt. Doch leider gehen einem diese eigentlich doch so interessanten Figuren, da ihre Eigenschaften per Tell und nicht qua Show vermittelt werden, nicht besonders nahe. Generell fehlte mir, des unkontextualisierten Einstiegs wegen, die emotionale Bindung zu den Charakteren, besonders die Beziehung zwischen Romy und Aurel war mir praktisch einerlei. Aber auch alle anderen Konflikte zwischen diesen dreien besitzen durch dieses Versäumnis nicht die emotionale Tiefe die nötig gewesen wäre. Zudem verschwendet das Buch auch bezüglich der Nutzung der beiden eine große Menge an Potential, mehr dazu später. Auch die Nebencharaktere unter den Ancoranern – wie Romy die Dorfbewohner nennt – sind nicht besonders gut geschrieben.
Die meisten sind blass und eindimensional, lediglich Ava und Kira sind besser ausgearbeitet.
Aber das alles wäre noch zu verschmerzen vorausgesetzt die Hauptfigur Romy wäre exzellent geschrieben und da das Buch aus ihrer Ichperspektive geschrieben ist, ist hier viel Potential vorhanden. Doch auch hier enttäuscht das Buch lamentablerweise. Im Gegensatz zu dem was andere Rezensenten geschrieben haben, war mir Romy nicht sonderlich symphatisch. Ihre Interaktion mit Aurel ist alles andere als konfliktfrei (auch bedingt dadurch, das sie sich in keinster Weise auf seine Perspektive einlässt), sie vertraut Dorfbewohnern die sie erst seit einigen Tagen/Wochen kennt mehr als ihrem monatelangen festen Freund, betrügt ihn, stellt aber die höchsten moralischen Ansprüche an ihn und ist generell viel zu voreilig und impulsiv. Und da wäre noch die Sache mit dem Zeitanhalten. Dies ist buchstäblich das erste, was der Leser von Romy erfährt. Manchmal stoppt für sie, für einige Sekunden die Zeit. Dies bezeichnet Romy als Fluch da s sie sich aufgrund des Unverständnisses aller anderen hinsichtlich dessen unverstanden fühlt. Dabei lässt sie jedoch völlig außer Acht, das dieser auch so schlimme Fluch ihr bei seinem ersten Auftreten das Leben gerettet hat, was sie mir auch nicht symphatischer gemacht hat. Ich habe sie auch nicht gehasst, jedoch reicht sie nicht ansatzweise an Hauptfiguren wie John Wayne Cleaver, Katie West oder Jeff Jacobson heran, welche dazu imstande sind ein Buch auf ihren Schultern zu tragen und zu definieren. Ein Umstand der durch die vorhin erwähnten Probleme betreffs der Figurenetablierung nur verstärkt wird. Meiner Ansicht nach wäre es sowieso besser gewesen das Buch aus der Perspektive aller drei Hauptcharaktere zu erzählen. Dadurch ließe sich die Geschichte breiter anlegen, die Figuren besser ausarbeiten (besonders die Umgebung und die Dorfbewohner hätten davon profitiert) und auch bezüglich der belehrenden Ebene hätte dies viele Möglichkeiten geboten. Stattdessen verpasst der Leser jedoch sogar eine potentiell sehr spannende Szene, da Romy nicht anwesend ist. Abschließend möchte ich zu den Figuren noch eine letzte Sache erwähnen. Da Romy sich bereits zu Beginn der Geschichte in einer Beziehung befindet, habe ich gehofft, dass mir das – euphemistisch ausgedrückt – stark überbenutzte Thema der Liebesgeschichte in „Ancora“ erspart bleibt. Doch stattdessen präsentiert mir Colin Hadler nicht nur eine neue Liebesbeziehung (anbei sei bemerkt, dass der Umstand, dass diese Beziehung lesbisch ist sie für mich weder auf noch abgewertet hat. Das einzig relevante ist für mich der Fakt, dass es eine Beziehung gibt). Nein zusätzlich erfindet Colin Hadler auch ein literarisches Stilmittel von dem ich wirklich hoffe, dass es auf dieses Buch beschränkt bleibt. Ein LiebesVIERECK (ich verstehe auch in keinster Weise was gleich drei Figuren an Romy derartig liebenswürdig finden)wenn die Charaktere das Buch nicht definieren können, muss es eben eine spannende Geschichte mit guten Mysterien und überraschenden Plottwists tun, doch auch hier ist das Buch ausbaufähig. Colin Hadler setzt auf das selbe Prinzip wie viele moderne Serien: Das der sogenannten Mysteriebox. Das funktioniert folgendermaßen: Zu Beginn der Handlung wird ein Mysterium oder mehrere Mysterien etabliert. Sie sind der Katalysator der Handlung, und Antworten zu finden ist die Motivation der Figuren und Konsumenten gleichermaßen. Das kann (wie ja auch an der Beliebtheit von Krimis oder Mysterythrillern erkennbar ist) durchaus funktionieren. Um jedoch aufzuzeigen wieso es dies in diesem spezifischen Fall nicht tut bietet sich ein Vergleich zu der „Das Tal“ Reihe von Krystyna Kuhn an. Auch dort geht es um ein abgelegenes Tal in welchen mysteriöse Dinge geschehen und die Natur zeitweise verrückt spielt. Es gibt jedoch zwei entscheidende Unterschiede zwischen „Ancora“ und „Das Tal“. Die „Das Tal“ Reihe umfasst acht Bücher, die Krystyna Kuhn nutzt um behutsam ein Mysterium nach dem anderen aufzubauen und schließlich in den letzten beiden Büchern aufzulösen, während Colin Hadler versucht in einem einzigen Buch ähnlich viele Mysterien aufzuwerfen und zu lösen wie die „Das Tal“ Reihe in acht Büchern. Der sich daraus ergebende Effekt ist, dass „Ancora“ völlig überladen wirkt und man den Überblick über die Mysterien verliert. Zudem wusste ich lange nicht worauf ich eigentlich hinfiebere. Natürlich auf Antworten, doch aufgrund des nicht ganz ausgereiften Schreibstils und der etwas blassen Figuren habe ich mich nicht wirklich in die Geschichte involviert gefühlt und auch sonst misslingt, wie bereits oben erwähnt der Spannungsaufbau. Der zweite Unterschied besteht darin, dass in der „Das Tal“ Reihe ein großer Fokus auf die Figuren gelegt wird, was zur Folge hat, dass man sich für sie interessiert und mitfiebert und dies fehlt hier. Lange Rede kurzer Sinn: Colin Hadler legt zu großen wert auf seine Mysterien. Er etabliert zuviele und vernachlässigt darüber wichtige Aspekte wie Figurenentwicklung, Figureninteraktion,Spannungsaufbau, Eindringlichkeit und – was ich beinahe am bedauerlichsten finde – die Tiefgründigkeit. Es gibt für mich nur wenige Jugendbücher – und noch weniger Jugendthriller – die ein derartiges Potential in Bezug auf Tiefgründigkeit innehaben wie „Ancora“. Neben den klassischen Themen eines Jugendbuches wie Freundschaft, Erwachsenwerden, die erste Liebe, Identitätssuche/findung und dergleichen mehr, konnte ich noch diese potentiellen Themen finden: Vor - und Nachteile Wissenschaft/moderne Lebensweise versus Vor - und Nachteile Naturverbundenheit/traditionelle Lebensweise, Geheimnisse, Schicksal/Vorherbestimmung, Determinismus versus freier Wille, Zeitschleife als Metapher für Teufelskreis aus Schuld und Hass. Doch das einzige dieser Themen, das mich in seiner Darstellung wirklich überzeugen konnte, ist letztgenanntes Alle anderen Themen werden unzureichend behandelt sind nur angedeutet oder hätten sich angeboten. Ich finde es wirklich zutiefst bedauerlich, dass ein Jugendbuch, welches so viel potentielle Aussagekraft besitzt, diese durch die Überbetonung von Mysterien verschwendet. Besonders der Konflikt zwischen moderner und traditioneller Lebensweise hätte herausragend durch die beiden Charaktere Aurel und Jannis dargestellt werden können. Hyphotisch geschrieben: Während Jannis mit seiner Abneigung gegen Geld und Privilegien der Vertreter der traditionellen Lebensweise ist, würde Aurel mit seinem Kontrollwahn und seinen Bedürfnis alles zu erklären die moderne Lebensweise repräsentieren. Und Romy vereint beides in sich. Die beiden hätten entweder als eigenständige Charaktere (mehrere) Perspektiven oder als Engelchen und Teufelchen auf Romys Schulter (nur ihre Perspektive) fungieren können. Auch das Potential des Gedichts wird meiner Ansicht nach nicht richtig genutzt zumal der Autor hier hinsichtlich der Todesprophezeiung getrickst hat, wodurch sich die Geschichte in eine andere Richtung entwickelte als ich erwarte hätte, mir jedoch nicht gut gefiel.
Ich sehe mich dazu genötigt auch noch über das Ende zu schreiben, weswegen ich hier nochmals eine Spoilerwarnung ausspreche.

Es gibt qualitativ betrachtet viele Arten von Enden. Manche können ein weniger gelungenes Buch retten, andere ein bis dorthin gutes Buch ruinieren. Manche Enden jedoch passen perfekt zu dem zugehörigen Buch, darunter auch das von „Ancora“. Alle meine vorher beschrieben Punkte lassen sich in dem Ende wiederfinden. Colin Hadler führt auf glühenden Kohlen einen Tanz zwischen Genialität und Dilenttatismus. Einerseits ist da die hervorragende Zeitschleifenmetapher, andererseits lässt sich die antagonistische Person von Romys Appell, welcher diese Metapher enthält viel zu leicht überzeugen. Generell scheint es so als würden die Hauptfiguren auf den letzten Seiten den letzten Rest ihres Verstandes verlieren. Während Romy in ihrer starrsinnigen Impulsivität Aurel ausversehen, in einen reißenden Fluss stößt (Aurels Überlebenskampf wird dem Leser durch Romys Ichperspektive natürlich vorenthalten und nein, dies ist nicht die Szene von der ich oben schrieb) offenbart Jannis der sich als Verräter entpuppt, seine lachhafte Motivation die ihn in Verbindung mit einer weiteren Handlung unglaublich dumm und naiv wirken lässt. Dazu möchte die antagonistische Person Romy aus fadenscheinigen Gründen töten aber nicht ohne vorher wieder ähnlich viel zu reden wie Politiker im Wahlkampf. Aber das mit Abstand schlimmste ist, dass Colin Hadler sowohl Aurel als auch Jannis vermeintlich tötet, letztendlich jedoch beide davonkommen lässt. Meiner Ansicht nach wäre es für die psychologische und symbolische Ebene deutlich besser gewesen beide – oder wenigstens einen - wirklich sterben zu lassen. Besonders Jannis Charakterbogen hätte auf diese Art immerhin ein gutes Ende erhalten. Hauptfiguren nur des Schockmoments wegen zu töten nur um sie aus Rücksichtsnahme oder schierer Feigheit anschließend wiederzubeleben – was hier eindeutig der Fall ist – gehört in dieselbe Katerogie wie ins nichts endende Cliffhanger: Anwendung strengstens verboten.

Fazit:

„Ancora – Die Zeit ist gegen dich“ ist ein misslungenes Buch. Die Nebencharaktere sind entweder blass oder frustrierend oder bleiben unter ihren Möglichkeiten. Auch Romys Ichperspektive richtet in ihrer konkreten Umsetzung mehr Schaden als Nutzen an, da die Geschichte sich dessentwegen eingeschränkt fühlt und Romy mir nicht sonderlich symphatisch war. Auch die Inszenierung bietet noch Raum für Verbesserung. Es fehlt ein konkreter Fixpunkt auf den ich hinfiebern konnte, hinzu kommen ins nichts gehende Cliffhanger und eine seltsame Spannungskurve. Noch bedauerlicherweise ist jedoch welches Potential es in Puncto Tiefgründigkeit verschwendet. Ich möchte jedoch abschließend erwähnen, dass es mich noch niemals derartig geschmerzt hat ein Buch schlecht zu bewerten. Denn nicht nur ist die Prämisse des Buches hochinteressant, nein auch lässt der Schreibstil, obzwar er es an Eindringlichkeit missen lässt, einiges an Potential erkennen. Zudem ist die Intention des Autors Jugendliche wieder zum Lesen zu bringen aller Ehren wert und das merkt man auch an diesem Buch, es ist wirklich stark auf Jugendliche Leseanfänger ausgerichtet.
Und so verbleibe ich trotz meiner harschen Worte in der Hoffnung, dass „Ancora“ ein Ausrutscher eines großartiges Jugendautors, der Jugendliche wieder zum lesen bringen kann, ist und nicht ein bezeichnendes Werk.

Ich vergebe – in der Hoffnung, dass ich dies bei diesem Autor nie wieder gezwungen bin zu tun:

2/5 Sternen