Aus Ich wird Ich

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Eddy Bellegueule lebt in einem kleinen Dorf im Norden Frankreichs, wird auf dem Schulhof als „Schwuchtel“ beschimpft, verbringt die Abende stundenlang mit den Eltern schweigend vor dem Fernseher. Édouard Louis lebt in Paris, ist angesehener Teil der Pariser Bohème-Gesellschaft, liest und schreibt und führt distinguierte Gespräche. Und beide sind ein und dieselbe Person. Zwischenstation ist die Kleinstadt Amiens, in der er einige Jahre verbringt. Dort lernt er ein Leben kennen, das sich für ihn schon fundamental von seiner Kindheit unterscheidet: Mit Freundin Elena und deren Mutter Nadya taucht er in die Welt von Literatur, Film und Kunst ein, lernt Benimmregeln, entfernt sich immer weiter von seiner Familie, vom Leben in Armut und Bildungsferne. Doch bald merkt er: Amiens ist nicht genug! Es muss weitergehen! Die Bekanntschaft mit dem Philosophen und Autoren Didier Eribon öffnet ihm neue Türen, erweitert seinen Horizont und stößt Transformationen an...

„Alles, was ich tat, empfand ich als Wunder, als Erschütterung, ich war ein Eindringling, der ein fremdes Leben gestohlen hatte“ (S. 211)

Nach Kindheit, Vater und Mutter, die die thematischen Schwerpunkte von Louis' weltweit frenetisch gefeierten ersten Büchern bildeten, zeigt sich der Shooting Star der französischen Gegenwartsliteratur nun von einer weiteren, gleichzeitig noch verletzlicheren, aber auch angreifbareren Seite. Die Verwandlung von Eddy zu Édouard, die er sukzessive vollzieht, ist steinig, voller Umwege, immer geprägt von Louis' gelegentlich obsessiv wirkender Zielstrebigkeit. Louis ist bereit sich komplett zu öffnen, sich vor seinen Leser*innen, seiner Familie und Freunden und vor sich selbst nackt zu machen. Schmerzhaft nackt.

Schnell wird klar: Um seine Ziele zu erreichen, der Provinz zu entfliehen, sich selbst zu „erretten“, ist ein Schauen nach Links und Rechts verboten, birgt es doch zu große Gefahren, vom Weg abzukommen, unrettbar verloren zu sein in der abgründigen Enge seiner Herkunft. Doch Louis leugnet nicht, nie, zu keinem Zeitpunkt: Immer wieder reflektiert er sein Handeln, tauscht sich mit sich selbst „im Spiegel“ in Dialogen aus, wendet sich in imaginierten Aussprachen an seinen Vater, nutzt ihn als nicht antwortenden Austauschspartner. Er offenbart seine Schwächen, zeigt, dass er seine Freundschaften zu Elena, zu Schriftsteller Eribon, zu seinen mäzenenartigen Bekanntschaften der Pariser Hautevolee ein großes Stück weit genutzt hat, fast schon BEnutzt hat. Dabei steht jedoch nie ein finanzieller Profit im Mittelpunkt, sondern Befreiung. Wie ein Ertrinkender schildert Louis in Satzkaskaden seine Furcht, seine Panik davor, im Dorf seiner Kindheit verharren zu müssen. Und plötzlich kehrt eine Ruhe in die Erzählung ein, eine unausweichliche Stille, in einen Satz mündend: „Es tut mir leid“ (S.61). Eine Wendung, die um Verzeihung bittet, die sich an jede*n richtet, die*der sich angesprochen fühlen darf. Radikalität und Selbstreflexion wechseln sich in schneller Folge ab, einem Bewusstseinsstrom gleich, dessen Drängen und Fordern an uns reißt, das nur eine Richtung kennt: nach vorne!

Mit „Anleitung ein anderer zu werden“ wagt Louis viel – und gewinnt auf ganzer Linie. Er dekonstruiert ein Stück weit das Bild von ihm, das Bild des Aufsteigers, des Jungen, der sich ganz allein emporgearbeitet hat. Er gesteht Schwächen ein, unumwunden, lässt uns an der Realisierung von Fehlern, von seinen menschlichen Unzulänglichkeiten teilhaben, zeigt gleichzeitig die Vehemenz seiner Selbstoptimierung, seinem Wahn, nur über Perfektion das Alte vollständig auslöschen zu können. Stilistisch wechselt er zwischen philosophisch-intellektueller Betrachtung und aus dem Munde polternden Wahrheiten, distinguierter Beobachtung und emotional-sensitiven Schlüssen. Ein großes Buch, ein still-lautes Buch, voller Momente des Scheiterns, des Siegens und Verlierens, des Findens von sich weg, zu sich hin!