Schonungslos

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babsi_00 Avatar

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“Alle Leben zu leben, war meine Rache für die Tatsache, dass man mir bei der Geburt einen bestimmten Platz zugewiesen hatte.“

Mit seinem weltweit gefeierten autofiktionalen Großprojekt wurde Édouard Louis zu einem Star der französischen Gegenwartsliteratur. In seinem neuesten Buch beschreibt Louis mit soziologisch geschliffener Distanz seinen Weg raus aus der Arbeiterklasse hinein in eine bürgerliche Oberschicht. Er wächst in einem nordfranzösischen Dorf, das arm an Bildung, Geld, Empathie und reich an Gewalt, Alkoholismus, Perspektivlosigkeit ist, auf und ist aufgrund seiner Sexualität und Herkunft täglichen Demütigungen ausgesetzt.

Die Scham über seine eigene Herkunft, die Erniedrigung und Ausgrenzung sind sein größter Ansporn, um sich eine neue Identität zuzulegen und die Grenzen seiner Herkunft hinter sich zu lassen. Als einer der wenigen geht er auf das Gymnasium und widmet sich seiner Metamorphose. Sprache, Kleidung, Habitus, Umfeld - nichts ist vor seiner Obsession, ein anderer zu werden, sicher - werden von den "besseren Leuten" kopiert. Die wohlhabende Familie seiner Schulfreundin Elena ermöglicht ihm mittels Musik, Literatur, Filme und Kunst Teilhabe an einem kulturellen Leben. Aus Eddy Bellegeule wird schließlich Édouard Louis, ein Intellektueller und Absolvent einer Pariser Elite Universität.
Der Preis für seinen Befreiungsschlag sind dauerhafte Scham über die eigene Herkunft, das Zurücklassen geliebter Menschen sowie Schuldgefühle gegenüber der eigenen Familie und ihrer Klasse.

Die Kraft des Romans entfaltet sich durch Louis schonungslose Ehrlichkeit und Entblößung. Ich konnte nicht genug von seiner messerscharfen Beobachtungsgabe und klaren Sprache, in Sonja Fincks wunderbaren Übersetzung, bekommen. Deshalb freue ich mich, all seine vorherigen Bücher noch entdecken zu dürfen.