Schonungslos im Umgang mit seiner Geschichte

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Édouard Louis schreibt mit „Anleitung ein anderer zu werden“ in autofiktionaler Form vom Bruch mit seiner Herkunft, von seiner Flucht in eine „Veränderungswut“ und seinem Weg zur Literatur.

In zum Teil fragmentarischen Erinnerungsfetzen eröffnet uns der Protagonist Édouard, der einst Eddy hieß, Einblicke in sein Aufwachsen in einem ärmlichen Gebiet im Norden Frankreichs. Es werden vergangene Szenen der Kindheit aufgeblendet, die sich in ihn eingeprägt haben. Er spurt sein bisheriges Leben nach und scheint dabei unentwegt suchend.
Ein Teil der Geschichte ist an den Vater adressiert und umfasst eine fiktive Aussprache mit ihm. In dieser erklärt Édouard, dass er aus dem Dorf, in dem er aufwuchs, herausmusste, um Distanz zu erhalten: zu seiner Herkunft, dem Milieu seiner Kindheit, seiner eigentlich schon vorgezeichneten Lebenslaufbahn. Diese Distanz ist nicht durch eine geografische erreichbar, sondern allein durch Bildung. Aber Édouard lernt mit dem Gang auf das Gymnasium in Amiens auch, dass sich seine Herkunft in ihn eingeschrieben hat und er Klassenzuschreibungen nicht einfach so entkommen kann. Er sehnt sich nach Ausbruch, nach einem anderen Dasein – weg von Armut und handwerklichem Schuften, hin zum Zugang zu Bildung und kulturellen Gütern. Scham haftet an allem, was seine Vergangenheit betrifft, von der er sich radikal abgrenzen will. Von allem, was sein Milieu kennzeichnet und Mittellosigkeit aussagt – seine schiefen Zähne, die Berufe seiner Eltern, sein gesamter Name. Film, Kunst und Literatur sind für ihn ein rettender Anker und die Möglichkeit in ein neues Leben zu treten. Seine zunehmende Bildung, die er sowohl auf dem Gymnasium als auch bei seiner besten Freundin Elena zu Hause erfährt, distanziert ihn immer weiter von seinem Elternhaus. Er möchte Rache nehmen an seiner Kindheit, deren Gefangener er anscheinend noch immer ist, sowie den Erniedrigungen und Demütigungen, die er damals aufgrund seiner vermeintlichen Andersartigkeit als schwuler Junge erfuhr. Er bezeichnet seine Veränderung als „Wut“ und „Verwandlung“. Diese erfolgt stets, indem er andere nachahmt.
Kontrovers ist, dass sein Wunsch nach einem anderen Leben mit der Gewissheit einhergeht, seinen Vater zu enttäuschen und dessen Erwartungen an ihn nicht gerecht zu werden. Er merkt, dass er nicht in beide "Welten“ gehören kann: die Welt seiner Vergangenheit und die, die sich ihm ab seiner Zeit in Amiens eröffnet. Er stößt die eine entschieden ab, verleugnet seine Kindheit und Herkunft, um in die andere zu passen. Es ist ihm unmöglich, beides miteinander zu vereinen: Es scheint, als habe er zwei Leben und eine gebrochene Biografie, die ihren Ursprung in seinem Gang auf das Gymnasium hat.
Es beherrscht ihn die Angst, dass seine Vergangenheit ihn stets einholen kann und er nicht davor gerettet ist. Aus diesem Grund muss er unentwegt flüchten. Keine Entfernung – geografisch und intellektuell – scheint genug. Jedes erreichte Ziel ist lediglich ein Zwischenschritt zu einem nächst größeren.
Erreicht er eine (vorläufige) Rettung und somit kurzzeitige Erleichterung, verbleibt doch eine Rastlosigkeit und der Druck nach Veränderung, was den gesamten Text durchzieht. Ambivalent ist zudem, dass ein Hassen und ein Vermissen seiner Vergangenheit dabei miteinander einhergehen.

Édouard Louis schreibt eindrücklich, schonungslos und transparent von seinem stetigen Bemühen, ein anderer zu werden.