Spannender Versuch einer Transformation

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Aus dem dörflichen, aus einfachen Verhältnissen stammenden Eddy, der aufgrund seiner Homosexualität gemobbt wurde, soll einst der angesehene, attraktive Intellektuelle Édouard werden. Wie das möglich ist? Das erzählt er uns in seinem autofiktionalen Transformations-»Roman« mit dem Titel »Anleitung ein anderer zu werden. Sicherlich könnte man allein schon über die Zuschreibung des Genres eine wissenschaftliche Arbeit schreiben, aber uns soll viel mehr interessieren, wie Édouard es schafft, uns für sein erst junges Leben zu interessieren.

Der 1992 in Nordfrankreich in einem kleinen Dorf geborene Autor blickt zurück auf eine Kindheit und Jugend voller Entbehrungen und französischer Tristesse. Der Vater Alkoholiker und Rassist, die Mutter Kettenraucherin, der Bruder irgendwann im Gefängnis, das einengende Dorf, das ihm keinen Ausweg aus der Misere bieten kann. Sein Weg scheint vorgezeichnet. Ein Ausbruch aus diesem Leben und die Überwindung der Klasse kaum möglich. Doch ihn treibt ein Motiv besonders an: die Flucht. Zunächst vor seinem Vater, schließlich vor dem Leben im Dorf und damit auch vor den prekären Verhältnissen und seiner Herkunft. Später wird er immer wieder das Gefühl verspüren, vor seinem Leben davonzurennen. Auch, als er bereits einen Abschluss an der Pariser Elite Universität École normale supérieure vorweisen kann und mit namhaften Berühmtheiten der französischen Gesellschaft verkehrt.
Als er die wohlhabende Elena mit ihrem unstillbaren Interesse für Kultur kennenlernt, ist es um ihn geschehen. Er möchte auch dieses Leben führen, am Esstisch über Romane und Gemälde reden, und reich sein. Édouard lernt früh, dass soziale Ungerechtigkeit tief verankert ist im Arbeitermilieu, dem er entstammt. »Ich wuchs in einer Welt auf, die alles ablehnte, was ich war, und ich empfand es als Ungerechtigkeit – das dachte ich immer wieder, hundertmal am Tag, bis zum Erbrechen [...]«

Doch Elena und ihre Familie nehmen ihn auf, lehren ihn Etikette und ermöglichen ihm Teilhabe an einem kulturellen Leben. Später werden es weitere Menschen in seinem Leben sein, die ihm wohlgesinnt begegnen, und ihm ein anderes Leben ermöglichen. Allen voran der berühmte Soziologe und Intellektuelle Didier Eribon, der auch als Bildungsaufsteiger bekannt wurde.

Édouard ist Meister des Extremen: so temporeich und grenzüberschreitend sein Leben ist, sein Stil ist frei von jeglicher Effekthascherei, von jedem Pathos und zeigt einen vollkommen entblößten Menschen, der sich Scham und negative Gefühle zugesteht. Diese so nahbare Prosa, von einem gebrochenen und langsam heilenden Menschen zu lesen, der doch nur das Glück sucht, war für mich so unglaublich berührend und daher vielleicht das wage mutigste Buch in diesem Jahr. Wie unter dem Brennglas seziert er sein Innenleben, seine Fehler und zeichnet seinen Lebensweg nach, der von unendlicher Traurigkeit geprägt ist. Denn wir erkennen, dass jeder Fluchtversuch nicht nur Rache an seinem Vater und an seinem Milieu, sondern vor allem ein Fliehen vor sich selbst ist. Immer wieder ist er getrieben von neuen Idealen, Vorstellungen und Visionen. Erst das Ausleben seiner Sexualität wird für ihn eine merkliche Distanzierung zu seiner Herkunft und damit der Eintritt ins romantisierte Bürgertum.
Dass die äußerliche Transformation, das Ablegen seines nordfranzösischen Dialekts, das Erlernen eines neuen Gangs und die Namensänderung jedoch nicht den kleinen Eddy von damals auslöschen können, ist selbsterklärend. » [...] vielleicht ist die Vergangenheit aber auch so tief in mir verankert, dass ich nicht anders kann, als von ihr zu erzählen, jederzeit, bei jeder Gelegenheit, vielleicht tue ich in dem Glauben, mich von ihr zu befreien, nichts anderes, als ihre Anwesenheit zu stärken und ihre Macht über mich zu vergrößern, vielleicht sitze ich in der Falle – ich weiß es nicht.«
Das eigene Leben so ungeschönt und unverblümt zu erzählen, sich so verletzbar zu präsentieren und seinen Leser*innen dabei eine soghafte Rauscherfahrung auf Papier zu ermöglichen, ist große Kunst. Was bleibt zu sagen außer: grandios, merci Édouard!