Anschreiben gegen das zweite Sterben
Ein Landschaftsbild auf dem Cover möchte uns ins Sauerland führen. Das passt: land- und forstwirtschaftlich geprägt bis heute, weit und naturnah. Die Leserschaft ist gleich verortet.
„Die Geschichte meiner Urgroßmutter.“ Hört sich der Untertitel etwas verstaubt und langweilig an? Eigentlich macht er eher ein bisschen neugierig, denn er verspricht persönliche Bindung und Informationen sowie das Eintauchen in eine politisch und sozial bewegte Zeit. Man überlegt kurz, was man eigentlich selber von seinen Urgroßmüttern weiß. War die eigene Familie ortsfest, bestehen noch Chancen, dass man über Kenntnisse oder Informationsquellen verfügt. Wirbelten Krieg, Verfolgung, Flucht und Vertreibung die Familiengeschichte durcheinander, wird es schwieriger.
Der Journalist und Autor dieses Buches Henning Sußebach sammelte Informationen in der eigenen Großfamilie, durchforstete mit Hilfe von Fachleuten Kirchenbücher, Katastereinträge und unzählige Archive. Was er aus dieser Suche gewann, ist „was von einem Leben bleibt“ – dem Leben seiner Urgroßmutter Anna.
„Jeder Mensch stirbt zweimal.“ S. 7
Mit dem ersten Satz des Erzählers konfrontiert uns Sußebach gleich mit seiner ungewöhnlichen Erzählform. Denn wir finden uns hier weder in einem Roman oder einer üblichen Frauenbiografie wieder, aber auch nicht in einer einfachen zeitgeschichtlichen Darstellung.
Der Autor führt mit uns Leser*innen ein Zwiegespräch, mal philosophisch, mal unterhaltsam und immer möglichst nah am Leben seiner Hauptperson.
Hochgradig geschickt, spannend und sehr informativ gelingt es ihm, das Leben von Anna mit den Daten und Fakten der Zeitgeschichte zu verflechten. Immer ist man auf Höhe der damaligen Zeit, wenn man Annas Spuren folgt. Doch im Zentrum des Geschehens steht immer die Gegenwart Annas.
Anna hat keine bekannte oder außergewöhnliche Biographie, aber ihr Werdegang als Frau aus einfachen Verhältnissen ist für die Zeit der Jahrhundertwende bis 1933 schon relativ modern. Als blutjunge Lehrerin kommt sie ins sauerländische Cobbenrode. Als Zugewanderte („Neigschmeckte“ sagt man hier im Badischen, „Expat“ überzeichnet der Autor mal bewusst auf Neudeutsch) muss sie sich in einen schwierigen Dialekt, eine festgefügte Dorfgemeinschaft, berufliche Hierarchien und die neue Lehrerinnenrolle einarbeiten. Das Leben hält eine Vielzahl von knallharten Herausforderungen, furchtbaren Verlusten, schwerwiegenden Entscheidungen, großen Verantwortungen, einigen Freuden und vor allem sehr viel Arbeit für sie bereit. Anna entwickelt sich zu einer starken Persönlichkeit, die sich auch gegen die Konventionen ihrer Zeit vehement hinwegzusetzen weiß.
Mit einigen Fotos seiner Urgroßmutter gelingt es dem Autor, seine Schilderungen zu verdeutlichen.
Sußebach lässt seine Leser*innen sehr intensiv daran teilnehmen, wie er sich dem Menschen Anna nähert: sehr behutsam, sorgfältig ihre Gebundenheit an ihre Zeit betrachtend, Möglichkeiten und Unwägbarkeiten einbeziehend. Er lässt uns ganz intensiv in den Erzählprozess mit all seinen Problemen eintauchen. Dabei wird unser Bewerten der Vergangenheit als Nachgeborene ganz bewusst hinterfragt.
Immer wieder gibt uns Sußebach am Rande Sätze mit auf dem Weg, die eine große philosophische Tiefe aufweisen, wenn man weiter über sie nachsinnt. Das Buch umfasst nur 203 Seiten, aber was es uns mitgibt an Wahrheiten und Einsichten lässt sich in Seitenzahlen gar nicht messen. Das Frauenschicksal und die vielen philosophischen und zeitgeschichtlichen Gedanken haben mich sehr berührt und gehen noch länger nach.