Auf den Spuren der fast "vergessenen" Urgroßmutter

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Inhalt und Beurteilung
Im vorliegenden Buch, einer Mischung aus (lückenhafter) Biographie und historischem Sachbuch, beschäftigt sich der Autor mit dem Leben seiner Urgroßmutter Anna Kalthoff (1866 – 1932), die er nicht mehr kennengelernt hat, er wurde erst 1972 geboren.
In der Einleitung weist er bereits auf die schon im Titel angesprochene Problematik „Was von einem Leben bleibt“ hin: Menschen, die nicht in Adelshäuser hineingeboren oder auf andere Weise „prominent“ geworden sind, hinterlassen nach ihrem Ableben nur wenige Spuren, das gilt besonders für die Menschen früherer Jahrhunderte, als es noch keine modernen Speichermedien in Form von Fotografien oder Audioaufnahmen gab. Zu Annas Lebzeiten gab es bereits Fotografien, allerdings waren Besuche beim Fotografen außergewöhnliche Ereignisse zu besonderen Anlässen, die sich viele Menschen nicht oder nur selten leisten konnten.
Einfache Menschen fielen deshalb dem Vergessen anheim, wenn auch die ihnen Nahestehenden verstorben waren, sie starben nach dem biologischen quasi auch noch einen sozialen Tod. So verhält es sich auch im Hinblick auf Anna Kalthoff; in der Familie des Autors gibt es niemanden mehr, der Anna noch persönlich gekannt hat. Erhalten haben sich lediglich einige Fotografien, im Familienkreis tradierte Anekdoten, ein paar Schriftstücke (Poesiealbum und Postkarten), ein Verlobungsring und ein Kaffeeservice.
Ausgehend von den Eckdaten des Lebens seiner Urgroßmutter, muss Henning Sußebach viele Stationen ihres Lebens mit eigenen Vorstellungen füllen, dennoch wird deutlich, dass Anna eine Frau war, die sich in mancher Hinsicht aus den Konventionen ihrer Zeit löste. Nach dem Besuch einer Klosterschule in den Niederlanden kam sie als Zwanzigjährige in das Dorf Cobbenrode im Sauerland, um dort als Lehrerin zu arbeiten. Diesen Beruf übte sie nicht dauerhaft aus, da sie als Lehrerin nicht hätte heiraten dürfen (Lehrerinnenzölibat). Nach der Eheschließung mit dem Sohn des dörflichen Gastwirts, der auch die Poststation des Dorfes verwaltete, beschränkte sie sich nicht auf die Rolle als Hausfrau und Mutter, sondern wurde – früh verwitwet – zur „Businessfrau“ und führte selbstbewusst die Geschäfte. Einige Jahre später sorgte sie mit einer weiteren, sehr ungewöhnlichen, Eheschließung erneut im Dorf für Aufsehen…
Das Faszinierende an diesem Buch ist die Einbettung von Annas lückenhafter Lebensgeschichte in den historischen Kontext: Der Autor schildert, was sich im Laufe der Jahre von 1887 (Annas Dienstantritt) bis zu ihrem Tod 1932 weltweit, deutschlandweit und in Cobbenrode zugetragen hat, dabei werden politische Verhältnisse und wissenschaftliche Fortschritte thematisiert. Im Zusammenhang mit Annas Lehrtätigkeit wurden hochinteressante Dokumente zu den Schulgesetzen des 19. Jahrhunderts zusammengetragen, die einen fesselnden Einblick in Lehrpläne und Unterrichtsmethoden der damaligen Zeit vermitteln. Auch private Schriftstücke, Feldpost von Annas zweitem Ehemann an die Familie während des Ersten Weltkriegs, werden zitiert. Nüchtern und pragmatisch gehalten, erlauben sie allerdings wenig Einblick in das Gefühlsleben der Schreibenden.
Eine Bereicherung stellen auch die 17 Fotografien von Anna, teils im Kreise ihrer Familie, ihren beiden Kindern und ein Foto des Dorfes Cobbenrode dar, die die Schilderung von Annas Lebenslauf sehr gut veranschaulichen.

Fazit
Trotz eingeschränkter Quellenlage gelingt es dem Autor, seiner lange verstorbenen Urgroßmutter eine unverwechselbare Persönlichkeit zu verleihen und ihr Leben im geschichtlichen Kontext des späten 19. und frühen 20.Jahrhunderts für den Leser nachvollziehbar zu gestalten. Eine empfehlenswerte Lektüre!