Der Versuch, eine Erinnerung zu retten

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Anna Kalthoff, die Urgroßmutter des Autors, starb 1932, Anna war das 4. Mädchen der Familie, zuvor lassen sich im Geburtenregister Fälle von Kindersterblichkeit rekonstruieren. Der Vater, ein Gastwirt, früh verstorben als Anna 12 war, macht sie sich 1887 mit nicht einmal 21 Jahren auf den Weg zu ihrer ersten Anstellung als Volksschullehrerin. Für Frauen ihrer Zeit eine der wenigen Alternativen zu einer Ehe und die Möglichkeit Bildung und zumindest relative Selbständigkeit zu erlangen.

Von der Frau hinter diesen wenigen Eckdaten möchte Henning Sussebach erzählen. Dazu untersucht er zeithistorische Dokumente aus der jeweiligen Zeit, wie Lehrpläne und Lehrbücher, Geburten- und Strafregister, alte Personalakten, Dorfchroniken und wertet einige wenige persönliche Unterlagen und Habseligkeiten Annas aus, die erhalten wurden, wie etwa ein Poesiealbum, ein besticktes Tuch und einzelne Fotos.

Annas Lebensweg und diese gesammelten Eckdaten setzt Sussebach immer wieder in den jeweiligen historischen Kontext und die gesellschaftlichen Umstände. Es ist die Zeit großer politischer und technologischer Veränderungen: Postkutschen, erste Fahrräder und ihre Vorläufer bis hin zum ersten Flugverkehr, Industrialisierung, ein Kulturkampf zwischen Staat und Kirche um Einfluss-, Deutungs- und Rechtssetzungsmacht, Währungswechsel, um nur einige Umbrüche in Annas Lebensverlauf zu nennen.

Insgesamt finde ich das Buch in seinem Anspruch interessant, wichtig und sehr rührend, da es Einblicke in eine schon fast vergessene Zeit vermittelt und die Familienhistorie sowie Anna als Figur darin würdigt. Die Umsetzung ist herausfordernd angesichts der wenigen Unterlagen, die zu Anna erhalten geblieben sind. Mehr als Antworten zu finden, stellt der Autor daher Fragen und konstruiert so, wie Annas Leben hätte sein können. Anna steht dabei exemplarisch für ein Frauenleben in ihrer Epoche sowie die Möglichkeiten und Grenzen, die ihr diese gesetzt hat. Diese Widerstände zeigt der Autor immer wieder mit Blick auf die jeweils geltenden Normen und gesellschaftlichen Erwartungen eindrücklich auf.

Es ist etwas frustrierend, wie wenig sich tatsächlich rekonstruieren lässt und wie sehr wir auf Deutungen und die Reflexion dieser angewiesen sind. Doch gerade dieser Unzulänglichkeit des Materials wird der Autor mehr als gerecht und zeichnet mit Anna eine so gewöhnliche wie beeindruckende Frau und ein Leben im Kampf gegen Widerstände.