Ein Frauenschicksal zu Anfang des vorigen Jahrhunderts

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Der Autor Henning Sußebach hat sich vorgenommen, das Leben seiner Urgroßmutter Anna nachzuzeichnen, die 1887 mit zwanzig Jahren als Lehrerin in ein kleines Dorf im Sauerland zieht. Nur wenige Anhaltspunkte für Nachforschungen gibt es, einige Fotos, zwei Poesiealben aus ihrer Jugend, einige Notizbücher, Briefe und Dokumente. Daraus rekonstruiert er ihr Leben.
Parallel zu der persönlichen Geschichte spielt sich ja auch die Zeitgeschichte ab - in Deutschland und international. Sie wird auch aufgezeichnet - Erfindungen, Krieg, politische Entwicklungen, Auszüge aus Verwaltungsvorschriften mit teils kuriosen Einzelheiten. Dabei wird es ganz deutlich, wie stark diese Gesetze und Konventionen die junge Lehrerin einengen. Beispielsweise musste sie unverheiratet bleiben - das Lehrerinnen-Zölibat ... (In meiner Schulzeit in den fünfziger Jahren haben wir die Lehrerinnen auch noch als "Fräulein" angeredet.) Auf Annas Klassenfotos sind alle, Kinder wie Lehrer, so schrecklich steif und ernst ... ihr Gesicht streng, fast schon mit bitteren Zügen. Dann Heirat - das bedeutet Ausscheiden aus dem Schuldienst und Verlust der Pension - und nach wenigen Wochen schon verwitwet. Wie hart schlägt das Schicksal manchmal zu! Doch Anna gibt nicht auf - als Nachfolgerin des früh verstorbenen Mannes übernimmt sie die Poststelle und die Gastwirtschaft. Sie zieht ihren Jungen alleine auf. Nach zehn Jahren heiratet sie zum zweiten Mal und bekommt ein kleines Mädchen. Am Ende ihres Lebens muss Anna noch eine schwere, unheilbare Krankheit ertragen - ohne die Medikamente, Antibiotika und Schmerzlinderung, die wir heute haben. Da hat mir die tapfere Frau noch mehr Leid getan.
Dieses Buch hat mir die Generation um die vorletzte Jahrhundertwende näher gebracht: unsere Urgroßeltern. Wenn sie nicht gelebt hätten, gäbe es uns heute nicht. Beim Lesen des Buches ist mir (wieder mal) klar geworden, wie viel Zeit und wie viele kleine Schritte nötig waren, um Schulen, Technik, Verkehr auf den Level zu bringen, der heute Standard ist.
Ich bewundere den Mut, mit dem frühere Generationen das Leben angegangen sind - ohne die vielfältigen Hilfsmittel und Informationsmöglichkeiten, die heute zur Verfügung stehen.
Auf jeden Fall kann man das Zitat unterschreiben: wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen ... und Riesinnen.