Eine ungewöhnliche Biographie

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Der Autor spürt in dieser Biographie seiner Urgroßmutter Anna nach, über die ihm nur wenig bekannt ist. Um sich ein Bild von ihr zu machen, sie zu verstehen, ihr Leben mit allen Sinnen zu erfahren, betrachtet er die wenigen alten Fotos, die von ihr existieren, recherchiert akribisch die Zeit, in der sie lebte: Was ist in der Welt passiert? Wie könnte Anna gefühlt, gelebt, gedacht, was könnte sie gesehen, gehört, gerochen haben? Er selbst tritt als Erzähler in Erscheinung, der recherchiert, erzählt, vermutet.
Anna wurde 1866 geboren, ihr Vater starb, als sie 12 Jahre alt war. Nach einem schwierigen Start trifft sie 1887 in Cobbenrode im Sauerland als junge Lehrerin ein. Sie ist an einen Erlass des damals bestehenden Verbots der Verheiratung gebunden – eine Lehrerin hatte ledig zu bleiben. Doch sie verliebt sich in den 4 Jahre jüngeren Clemens, dessen Vater die Beziehung verbietet. Nach dessen Tod kündigt sie und die beiden heiraten, doch die Ehe ist nur von kurzer Dauer, da Clemens nach einem Unfall verstirbt. Ihr Sohn wird als Halbwaise geboren. Als Erbin übernimmt Anna die Postagentur in Cobbenrode, ein Amt, das vorher Clemens innehatte. Sie, die bei ihrer Eheschließung schon 37 war, verliebt sich später erneut und heiratet 1909 den 19 Jahre jüngeren Lehrer Bernhard Raesfeld. Im Alter von 45 Jahren schenkt sie einer Tochter das Leben: Maria, die Großmutter des Autors, wird geboren. Der Krieg beginnt, Bernhard überlebt. Die Jahre danach sind schwer, doch die Familie bleibt zusammen – eine Liebe gegen alle Wahrscheinlichkeit, wie Sußebach betont.
Anna stirbt schließlich im Alter von 65 Jahren an Brustkrebs, es ist das Jahr 1932.
Was dieses Buch so besonders macht, ist die Erzählweise: Der Autor erzählt Annas Leben, bleibt ihr gegenüber immer respektvoll, fragt, wie es gewesen sein könnte – und betont, dass es vielleicht ganz anders war. Die Leerstellen sind durch den historischen Kontext nur als Vermutungen zu füllen. Sußebach macht seine Rolle deutlich und reflektiert sie: „Ich beschließe, dass sie…“, „Ich entscheide, dass…“ – und doch bezeichnet er selbst es als übergriffig, genau das zu tun. Das Dilemma des Schreibenden wird zum Thema des Romans – er möchte Annas Leben dem Vergessen entreißen, immer in der Gefahr, es zu erfinden, den eigenen Blickwinkel zu sehr in den Vordergrund zu stellen „Ich dürfte manches in Anna gesehen haben, was sie nie war. Und werde einiges übersehen haben, was sie gewesen ist.“ (188) . Die große Sensibilität der Urgroßmutter gegenüber zeichnet Sußebach aus. Ein Foto von Anna aus Bad Salzuflen lässt ihn an ihren Tod denken, der für sie in der unbekannten Zukunft liegt, in die er sie ungern entlassen möchte. Er hätte Fragen an sie gehabt.
Eine ungewöhnliche, sehr einfühlsame Darstellung einer Frau, deren Nachfahre er ist und über die er doch so wenig weiß. Großartig.