Geschichtsschreibung von unten
Der Journalist Henning Sussebach begibt sich auf Spurensuche nach seiner Urgroßmutter. Dabei ist es recht wenig, auf das er sich berufen kann: ein paar Daten, zwei Poesiealben aus Annas Kinder- und Jugendzeit, einige Photos, ein paar Postkarten, Briefe und Notizbücher, ein Verlobungsring und ein Kaffee-Service. Niemand in seiner Familie kennt die 1932 gestorbene Frau noch persönlich. Angesichts dieser Ausgangslage ist es erstaunlich, was er geschaffen hat.
Geboren wurde Anna 1866 in einem kleinen Dorf in Westfalen. Der Vater stirbt früh, Anna kommt mit zwölf Jahren in ein Kloster, wo sie eine Ausbildung zur Lehrerin erhält. Mit zwanzig Jahren tritt sie ihre Stelle an als Dorfschullehrerin. Dieser Beruf verschafft ihr zwar Ansehen, ein kleines Gehalt und eine Dienstwohnung, doch er ist an Auflagen gebunden. Als Lehrerin darf man nicht heiraten, tut man es doch, muss man den Beruf aufgeben und verliert seine Pension. Aber Anna verliebt sich in den Sohn der angesehensten Familie des Ortes. Clemens ist nicht nur vier Jahre jünger, sondern auch „der Dorfprinz“, „der begehrteste Junggeselle im Dorf“. Seine Eltern lehnen die Verbindung ab. Erst nach dem Tod des Vaters, zwölf Jahre später, heiraten Anna und Clemens. Doch ihr Glück währt nur kurz. Zwölf Wochen nach der Hochzeit kommt Clemens bei einem tragischen Unfall zu Tode. Und Anna leitet nun selbstständig die vielen Geschäftszweige ihres Mannes, nicht nur die Gaststätte und den Kolonialwarenladen, sondern auch die angeschlossene Poststelle, und sie zieht ihren Sohn alleine groß. Jahre später wird sie erneut heiraten. Sie ist zu diesem Zeitpunkt eine reife Frau von dreiundvierzig Jahren, er 19 Jahre jünger. Mit 45 Jahren bekommt Anna noch eine Tochter, die Großmutter des Autors.
Henning Sussebach nähert sich seiner Urgroßmutter mit viel Empathie und Respekt. In manchem ist er auf Mutmaßungen angewiesen, das verschweigt er nicht. Was mag Anna gedacht, gefühlt haben? Mit einem Urteil hält er sich zurück, da unsere heutige Perspektive eine andere ist als zu ihrer Zeit. Doch das Bild, das er von ihr vermittelt, ist beeindruckend und wirkt glaubhaft.
Anna ist eine außergewöhnliche Frau, eigenwillig und selbstbewusst. So tritt sie uns auch in den im Buch abgedruckten Photos gegenüber. Sie lässt sich von Widerständen und Schicksalsschlägen nicht unterkriegen. Sie verstößt gegen gesellschaftliche Regeln und behauptet sich in einer von Männern dominierten Welt.
Zusätzlich zu den privaten Hinterlassenschaften hat Henning Sussebach in Archiven, Kirchenbüchern und Museen recherchiert. Er zitiert z.B. aus Schulbüchern, mit denen Anna gearbeitet haben könnte und er versucht uns den ländlichen Alltag von damals zu vergegenwärtigen, indem er z.B. aufzählt, was und wann ein Erwachsener gegessen hat.
Die Geschichte von Annas Leben wird immer wieder mit der Zeitgeschichte verwoben, eine Zeit der Umbrüche und des Wandels. Dabei stellt der Autor die großen weltbewegenden Ereignisse neben die kleinen: 1890 tritt Otto von Bismarck zurück und in Cobbenrode, wo Anna wohnt, wird das Schulhaus geweißelt. Ob Anna von all den Neuigkeiten in der Welt gehört hat, ist zu bezweifeln. Trotzdem stimmt, was Henning Sussebach schreibt: „In jeder Biografie spiegelt sich Weltgeschehen, und jeder unserer Vorfahren hat dieses Weltgeschehen mitgeprägt, ob durch Anpassung oder Auflehnung, bremsend oder beschleunigend.“
„Anna oder: Was von einem Leben bleibt“ ist ein kluges und reflektiertes Buch. Hier erzählt einer von einem Leben, das keinen Eingang gefunden hat in die Geschichtsbücher, das es aber trotzdem verdient hat, aufgeschrieben zu werden. Geschichtsschreibung von unten und gleichzeitig ein Denkmal für eine gewöhnliche wie ungewöhnliche Frau.