Im Zwischenraum von Erinnerung und Erfindung

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Ein leises, starkes Buch über eine Frau, die es eigentlich nie geben dürfte. Zumindest nicht so, wie Henning Sussebach sie in seinem Buch „Anna oder was von einem Leben bleibt“ entstehen lässt: als freie, denkende, liebende Frau im Jahr 1887 – im Sauerland, wo die Wege steinig und die Erwartungen starr waren.

Anna Kalthoff ist keine Heldin im klassischen Sinn. Sie ist keine Revolutionärin, keine Pionierin mit lautem Auftritt. Und doch widersetzt sie sich – still, konsequent und mit einer Art unaufgeregtem Mut, der in der Enge ihrer Zeit fast schon als Skandal gelten musste. Dass sie heute nicht in Vergessenheit geraten ist, verdankt sie dem Blick ihres Urenkels: Henning Sussebach sieht Anna. Immer wieder schreibt er diesen Satz. Und immer wieder ahnt man: Er sieht sie nicht, wie man einen Menschen sieht, sondern wie man sich einen geliebten Menschen erinnert, den man nie gekannt hat.

Dieses Sehen ist ein tastendes Schreiben. Zwischen Wissen und Wünschen, zwischen Fakten und Fiktion, rekonstruiert Sussebach nicht einfach ein Leben – er imaginiert es, mit allem Respekt und aller Vorsicht. Aus Archivfunden, alten Fotografien, Gesprächen mit Verwandten und seiner eigenen Vorstellungskraft formt er eine Geschichte, die in keine Gattung passt und gerade deshalb so besonders ist: Sachbuch, Biografie, Roman – irgendwo dazwischen entfaltet sich ein Text, der berührt, ohne sentimental zu sein.

Was bleibt von einem Leben? Vielleicht genau das: die Entscheidung, nicht zu vergessen. Henning Sussebach hat mit „Anna oder was von einem Leben bleibt“ ein Buch geschrieben, das weniger über die Vergangenheit als über das Erinnern erzählt. Über die Macht von Geschichten, die nicht groß sein müssen, um bedeutend zu sein. Und über eine Frau, die sich das kleine bisschen Freiheit nahm, das ihr niemand geben wollte – und die dadurch über ihr eigenes Leben hinausstrahlt.

Ein stilles, schön geschriebenes Buch, getragen von sprachlicher Präzision und tiefer Zuneigung. Es erzählt davon, wie viel bleibt, wenn einer sich erinnert – auch wenn es nur ein „vielleicht“ ist.