Geht ans Herz

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sleepwalker1303 Avatar

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„Annas Lied“ von Benjamin Koppel ist ein Buch, das mich in vielerlei Hinsicht berührt hat. Die bewegte Lebensgeschichte von Hannah Koppelmann zieht sich über fast ein Jahrhundert, von ihrer Kindheit in den 1920er-Jahren in Kopenhagen bis zu ihrem Tod 2019 in Frankreich. Der Autor, ein bekannter dänischer Jazz-Saxophonist, erzählt damit halbdokumentarisch die Geschichte seiner eigenen Familie, denn hinter der Protagonistin verbirgt sich seine Großtante Anna Koppel. Wie sehr ihn ihre Geschichte beschäftigt, zeigt die Tatsache, dass er ihr mit dem Album „Anna’s Dollhouse“ auch ein musikalisches Denkmal gesetzt hat.
Aber von vorn und zum literarischen Denkmal.
Hannah Koppelmann wurde 1921 in Kopenhagen geboren, das Buch beginnt 1929, als sie acht Jahre alt ist. Sie ist das jüngste von fünf Kindern und das einzige Mädchen. Die Wurzeln der jüdischen Familie liegen in Polen und eigentlich hatten Vater Yitzhak und Mutter Bruche geplant, nach Amerika zu auszuwandern. Gelandet ist die Familie dann aber in Kopenhagen, wo der Vater eine Schneiderwerkstatt betreibt. Alle fünf Kinder sind sehr musikalisch. Während aber drei der Brüder Musik zum Beruf machen dürfen, diktiert die Mutter Hannah ein strengeres Leben auf. Da die Brüder für die Mutter eine Enttäuschung sind (sie verweigern sich den arrangierten Ehen, heiraten gegen den Willen der Eltern Schicksen und wenden sich von der jüdischen Religion ab), bleibt Bruche bei Hannah unnachgiebig. Sie muss den Mann heiraten, den die Eltern für sie ausgewählt haben, eine Ehe mit ihrem Geliebten Aksel ist undenkbar.
Parallel zum Familienleben passiert auch viel in der Welt. Die Deutschen fallen in Dänemark ein, Juden werden verfolgt und auch Familie Koppelmann muss fliehen. Der Weg führt sie nach Schweden, wo Hannah auch das gemeinsame Kind von ihr und Aksel zur Welt bringt. Dieses wird ihr direkt nach der Geburt genommen, sie wird es nie wiedersehen. Als wieder Frieden in Europa herrscht kehrt die Familie zurück nach Kopenhagen und für Hannah geht es kurze Zeit später weiter nach Frankreich, zu einem Wildfremden, den sie heiraten muss, um die Mutter nicht zu enttäuschen. Sie lernt die Sprache, fügt sich ins Eheleben, ordnet sich ihrem Mann unter und findet ihr einziges Glück in ihren Kindern und dem Klavierspiel, dem sie heimlich hinter dem Rücken ihres Mannes weiter nachgeht. Wirklich glücklich wird sie aber erst nach seinem Tod, denn da kann sie sich noch für ein paar Jahre den Traum von der Musik erfüllen. Die unglückliche und von Gewalt geprägte Ehe schaffte es nicht, sie zu brechen und ihr ihre Träume zu nehmen.
Benjamin Koppel vermischt in seiner speziellen „Familienchronik“ Fakten und Fiktion, gibt Einblicke in das Zeitgeschehen und in das Leben in einer jüdischen Familie. Damit schafft er ein Buch, das mir ans Herz ging. Seine Sprache finde ich angenehm, sie ist schlicht und sachlich, die Übersetzung ist sehr gut gelungen.
Mich hat das Buch sehr betroffen gemacht. Der Umgang mit den jüdischen Mitbürgern in Kopenhagen, das langsame Erstarken des Nationalsozialismus in Europa – damals so aktuell wie heute. Anna/Hannah ist ein Kind ihrer Zeit, aber auch ein Kind ihrer Eltern. Arrangierte Ehen waren zu der Zeit beispielsweise nicht selten, auch in nicht-jüdischen Familien bestimmten oft die Eltern den Ehepartner, Heiraten zwischen den Konfessionen waren häufig unmöglich. Pflichterfüllung wurde von Kindern, vor allem aber von Töchtern stets erwartet. Hannahs Mutter Bruche hatte in der Familie eindeutig das Sagen, im Zweifel setzt sie sich mit Drohungen und Wutausbrüchen durch. Für mich als Leser war es bedrückend, wie sehr Bruche ihre Familie unter Druck setzte und dass sie ihre Tochter sehenden Auges in ein unglückliches Leben zwang. Sie selbst lebt als Matriarchin eine Emanzipation, die sie ihrer Tochter traurigerweise versagt.
Für die intensive Mischung aus Familien- und Zeitgeschichte gibt es von mir eine klare Lese-Empfehlung und fünf Sterne.