Gegen die Hustle-Culture

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raganiuke Avatar

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Dieses Buch habe ich voller Neugier erwartet, weil es gängigen Arbeitszeit- und Arbeitsmodelldebatten dazwischengrätscht. Wir haben noch lange keine Geschlechtergleichheit in Punkto Arbeitszeit und Verdienst, Frauen arbeiten in Deutschland häufiger in Teilzeit und in Niedriglohnbeschäftigungen, bekommen für gleiche Arbeit weniger Lohn, der Frauenanteil in Aufsichtsräten börsennotierter Unternehmen tendiert gegen null und vieles mehr.

In einer gleichberechtigten Gesellschaft bräuchte es also demnach mehr Girl-Bosse, oder? Falsch, das Modell der 60-Stundenwoche um an die Spitze der Karriereleiter zu klettern, ist das Credo des Kapitalismus, das in jüngster Zeit immer häufiger hinterfragt wird. "Vor allem Frauen wird eingetrichtert, dass sie sich mit individuellem Ehrgeiz aus gesellschaftlichen Ungerechtigkeitsstrukturen befreien könnten. Das ist kollektiver Selbstbetrug, der uns auf perfide Art Chancengleichheit vortäuscht und zu immer mehr bezahlter und unbezahlter Arbeit antreibt, findet Nadia Shehadeh (Klappentext)".

Das Phänomen "Girl-Boss" wurde durch die amerikanische Unternehmerin Sophia Amoruso geprägt, und zeichnet sich dadurch aus, dass sich eine Frau in einer männerdominierten Arbeitswelt ellbogenbewährt behauptet, also eigentlich ein erstrebenswertes Ziel aller Feministinnen, oder? Eben nicht, weil sich Frauen auf diese Weise in einem patriarchalen System behaupten, das an sich nicht erstrebenswert ist. Und "in der Regel haben diejenigen, die von einem System profitieren, wenig Interesse daran es zu ändern (S.35)".

Und deshalb ist es völlig ok, so Shehadeh, nicht um jeden Preis Karriere machen zu wollen, mit mittelmäßiger Arbeit ohne Aufstiegschancen zufrieden zu sein und bei der ganzen Selbstausbeutung einfach nicht mitmachen zu wollen. Ach wenn es doch nur so einfach wäre. Im Prinzip stimme ich der Autorin zu, in einer gerechten Gesellschaft sollten alle Menschen, gleich welchen Geschlechts, die Wahl haben, Karriere zu machen, oder auch nicht, Kinder zu bekommen, oder auch nicht, Zeit zu verplempern und nicht optimal zu verplanen, wenn sie wollen und sich nicht ständig selbst zu optimieren, wenn sie das nicht wollen.
Aber es sollte eben auch jeder erstmal von seiner Arbeit leben können und auch die Möglichkeit haben, einfach mal auf dem Sofa zu chillen, leider leisten aber noch immer mehrheitlich Frauen unbezahlte Care-Arbeit und sind nicht in einer derart privilegierten Position, und da liegt leider das Dilemma.

Am Ende des Buches bin ich eigentlich releativ froh, mich nicht mehr in diesem neo-liberalen Perfektionismus beweisen zu müssen, bin ich doch um einiges älter als die Autorin und habe meinen inneren Frieden mit meiner Arbeitssitualtion schon lange gemacht, Karriere hat mich nie interessiert, ebensowenig übrigens wie Famlie und Kinder, das Buch regt auf jeden Fall zum Nachdenken an und ich kann es nur weiterempfehlen.