Meisterhaftes literarisches Geflecht aus Geschichte, Identität und Macht

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nathalielamieux Avatar

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In "Antichristie" entfaltet Mithu Sanyal ein meisterhaftes literarisches Geflecht aus Geschichte, Identität und Macht, das auf zwei Zeitebenen spielt: der Gegenwart und das revolutionäre London von 1907.
Die Lesenden begleiten Durga, eine deutsch-indische Drehbuchautorin, die sich 2022 in London kurz nach dem Tod der Queen befindet. Sie soll an einem Drehbuch zu der Verfilmung eines Agatha-Christie-Romans mitarbeiten , doch die Herausforderung besteht darin, diesen Klassiker modern und ohne kolonialistische Motive neu zu interpretieren. Während Durga durch das zeitgenössische London streift, wird sie auf mysteriöse Weise in das Jahr 1907 versetzt und findet sich im Londoner India House wieder. Dort leben indische Freiheitskämpfer, die sich nicht dem gewaltlosen Widerstand Gandhis anschließen, sondern aktiv gegen die britische Kolonialmacht kämpfen.
Die beiden Zeitebenen des Romans werden kunstvoll miteinander verwoben. Während Durga in der Gegenwart die symbolische Last der kolonialen Vergangenheit trägt, geht es in der Vergangenheit um den direkten Kampf um Unabhängigkeit und Freiheit. Dabei stellt der Roman immer wieder die Frage, welches Maß an Widerstand und Gewalt in einer ungerechten Welt gerechtfertigt ist. In der Vergangenheitsebene stehen wir mitten im Kampf um die Unabhängigkeit Indiens von der britischen Kolonialherrschaft. Hier treffen wir auf historische Figuren und die schmerzhafte Auseinandersetzung der Inder
mit der Frage: Was bedeutet Freiheit? Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch die Handlung. Sanyal zeigt, wie die Kolonialmächte nicht nur politische, sondern auch kulturelle und religiöse Identitäten formten und zerstörten.
In der Gegenwart begegnen wir der Protagonistin, die ihre eigenen Wurzeln und das postkoloniale Erbe des Landes erkundet. Dabei stellt sie sich Fragen nach ihrer eigenen Identität und ihrer Verbindung zu dieser Geschichte. Diese Zeitebene ist von Selbstreflexion und der Suche nach Zugehörigkeit geprägt und beleuchtet, wie sehr die koloniale Vergangenheit noch heute nachwirkt.
Eindrucksvoll sind die Bezüge zu Königin Elizabeth II. und ihrer Rolle im kolonialen Erbe. Die Queen fungiert im Roman als ein Symbol für die Macht, die das britische Empire über Generationen ausübte. Sanyal nutzt die Figur der Queen, um die widersprüchlichen Gefühle gegenüber dieser Geschichte darzustellen – von Bewunderung bis hin zu tiefer Abneigung. Die Frage, wie sich das britische Erbe bis heute in der indischen Gesellschaft manifestiert, wird im Roman auf vielschichtige Weise verhandelt. Dabei wird deutlich, dass der Mythos der Queen für viele Menschen bis heute eine ambivalente Bedeutung hat. Auch formal dient das Zeremoniell ihrer Beerdigung als Rahmen dieser Erzählung.
"Antichristie" behandelt vielschichtige Themen wie Religion, Kolonialismus, Macht und Gender. Die Rolle von Religion und Heiligenfiguren, der Begriff der „Heiligkeit“ und dessen Dekonstruktion spielen dabei eine Rolle, während gleichzeitig Fragen nach nationaler Identität und der Geschlechterordnung gestellt werden.

Mithu Sanyal bricht gekonnt mit den konventionellen Erzählstrukturen und lässt verschiedene Perspektiven ineinanderfließen. Durch den Wechsel zwischen den Zeitebenen und das Spiel mit Erzählinstanzen verwischt sie gekonnt die Grenze zwischen Fiktion und Realität
Formal zeichnet sich der Roman durch seine vielen historischen und kulturellen Bezüge aus, die teilweise anspruchsvoll zu entschlüsseln sind, aber die tiefgehende Themenvielfalt bereichern. Mithu Sanyal verbindet eine humorvolle, aber tiefsinnige Erzählweise mit einer präzisen Erkundung der kolonialen Geschichte und ihrer Auswirkungen auf die Gegenwart. Das ist nicht immer einfach, manchmal hätte ich mir mehr historisches Wissen über Indien gewünscht – sie koppelt es aber mit Humor in viele Dialoge und einen Kriminalfall, sodass ich weiterlesen wollte, auch wenn der Kopf manchmal vor lauter Bezügen und Themen schwirrte.

"Antichristie" ist ein klug konzipierter Roman, der tief in die Geschichte und Gegenwart Indiens eintaucht. Wer sich auf diese erzählerische und historische Reise einlässt, wird mit einer Geschichte belohnt, die sehr nachdenklich macht. Sanyal schafft es, große Themen wie Kolonialismus und Identität in einer kreativen und fesselnden Weise zu behandeln – und zeigt, dass die Vergangenheit in der Gegenwart immer noch lebendig ist.