In der Mitte des Lebens

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Wer bereits etwas von Kristof Magnusson gelesen hat, wird von ihm keine von hübschen Krankenschwestern umschwirrten Halbgötter in Weiß erwarten und sich unter einem von ihm geschriebenen „Arztroman“ eher das Gegenteil vorstellen. Magnussons Notarzt ist eine Frau und sie ähnelt im Dienst äußerlich eher einem Feuerwehrmann. Anita Cornelius arbeitet am Notarztstützpunkt des Urban-Krankenhauses in Berlin-Kreuzberg. Sie rückt häufig gemeinsam aus mit ihrem Lieblingskollegen, dem Rettungssanitäter Maik. Mit 40 Jahren ist Anita an einem Punkt im Leben angekommen, an dem sie als erfahrene Notärztin zwar große Befriedigung im Beruf erfährt, sich aber auch fragen muss, was aus ihren Idealen geworden ist, aus denen sie sich für das Medizinstudium entschieden hat. Die meisten Notarzteinsätze in einer alternden Gesellschaft mit wachsender Anzahl von alleinlebenden Menschen entsprechen längst nicht mehr Anitas idealistischer Vorstellung vom Helfen. Zu oft flicken sie und ihre Kollegen in den Krankenhäusern nur notdürftig die Löcher, die eine kurzsichtige Sozial- und Gesundheitspolitik hinterlassen haben; zu viel Zeit verbringen sie mit sinnlosen bürokratischen Abläufen.

Anitas Trennung von ihrem Mann Adrian ist Folge dieser Bestandsaufnahme in der Lebensmitte. Nicht nur beruflich hatten Adrian und sie sich auseinander entwickelt. Beide müssen auch die Weichen für die nächsten 25 Berufsjahre neu stellen. Anita und ihr Mann hatten ursprünglich auf der Intensiv-Station gearbeitet. Anita trifft Adrian dort in Abständen wieder, wenn sie einen Patienten einliefert. Der gemeinsame Sohn lebt mit Adrian und seiner neuen Partnerin. Oberflächlich gesehen sind Trennung und Sorgerecht für beide Seiten vernünftig geregelt. Anita kann jedoch nur schlecht damit umgehen, dass ihr 14-jähriger Sohn Lukas inzwischen eigene Wege geht und sie nicht mehr auf alle Entwicklungen in seinem Leben Einfluss hat. Als Anita eine Beziehung mit dem Bootsbauer Rio beginnt, kommt ihr die Idee, Adrian, Lukas und Heidi zu einer gruppendynamischen Bootsfahrt gemeinsam „in ein Boot zu holen“.

Fazit
Magnusson hat die die Abläufe im Rettungsdienst und die Fachsprache sorgfältig recherchiert; sein Roman arbeitet mit den Mitteln der Reportage. Mit drastischen, unappetitlichen Szenen und Insider-Begriffen ist also zu rechnen. Seine Beschreibungen aus Anitas Berufswelt konzentrieren sich auf Beobachtungen im Milieu ihrer Patienten und auf äußere Abläufe. Als Leser erlebt man Anita als genaue Beobachterin der Lebensverhältnisse ihrer Patienten, seltener als glamouröse Retterin. Die Innenwelt einer Person im Schichtdienst ist mir dabei etwas zu kurz gekommen. Zwar wird am Rande gestreift, dass Anita bei Dienstende nur schwer abschalten kann und ihr Schlafzimmerfenster schwarz beklebt hat, um tagsüber schlafen zu können. Die besondere Lebenssituation einer Person, die gegenläufig zu anderen arbeitet und schläft, hätte m. A. deutlicher herausgearbeitet werden können. Kristof Magnusson zeigt in seinem „Arztroman“ die Sinnkrise Vierzigjähriger in der Lebensmitte und lässt seine Leser als Beifahrer im Notarztwagen hinter die Kulissen unseres Gesundheitssystems blicken.