Medizinisch perfekt - menschlich zu nüchtern

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Dann einmal Cabrio, oder?", lautet die knappe Frage des Einsatzleiters der Feuerwehr an Anita. Die Notärztin des Urban Krankenhauses in Berlin wurde zu einem Autounfall gerufen. "Sie näherten sich einem dunkelblauen BMW, der derart deformiert war, als wollte er sich jeden Moment in etwas anderes verwandeln. Die Motorhaube war geradezu um den eisernen Pfeiler herumgeflossen " Anita muss blitzschnell entscheiden. Der Fahrer, ein Junge von kaum zwanzig Jahren, spürt seine Beine nicht mehr. Das Autodach soll entfernt werden um den Jungen, dessen Beine sich zwischen Gaspedal und Bremse verklemmt haben, ohne Wirbelsäulendrehung aus dem Fahrzeug zu ziehen. Als die Feuerwehr noch dabei ist, erkennt Anita ihren Fehler: "Der menschliche Körper konnte meisterhaft auf Sparflamme schalten. Verlor er Blut, wurden unwichtige Stellen weniger versorgt. Besonders junge Leute konnten so über lange Zeit eine innere Blutung ausgleichen. Der Nachteil dieser Qualität war, dass es, sehr schnell vorbeiging. Anita sprang auf, warf die Decke fort und schrie: »Stop!«"

Mit ihrem beherzten Ruf, läutet die Notärztin die tatsächliche Rettung ein und als Leser hat man gerade die ersten zwanzig Seiten des Romans von Kristof Magnusson verschlungen, als wäre es nur eine gewesen. Es geht um den Alltag einer Notärztin, die im Beruf unter Hochspannung Leben retten muss. Dieser Teil ist in „Arztroman“ sehr gut gelungen. Mit bestechender Sachkenntnis schildert Kristof Magnusson die Einsätze seiner Hauptfigur Dr. Anita Cornelius. Diese reichen von einem Patienten mit chronischer Lungenkrankheit, über Panikattacken, Herzanfälle, Brüche und einen Luftröhrenschnitt in letzter Sekunde bis hin zu einem beinahe Massenanfall von Patienten, einem sog. MANV1. Man lernt so einiges über Notfallmedizin.

Der Teil, der im Klappentext so angepriesen wird: „Vor allem aber erzählt Magnusson witzig und unterhaltend aus dem Leben einer Frau Anfang vierzig“, ist meines Erachtens nicht so gut gelungen. Witzig ist das Leben von Anita ohnehin nicht und so wie sie dargestellt wird, macht es auch nicht wirklich Spaß ihrem Privatleben zu folgen. Anita hat sich nach 15 Ehejahren von ihrem Mann Adrian getrennt. Adrian hat eine neue Frau. Der gemeinsame Sohn Lukas ist beim Vater untergekommen. Es war die praktischste Lösung für den dreizehnjährigen und „für praktische Lösungen war Anita schon immer zu haben“. Die heile Trennungswelt bekommt Risse als Anita ihren Ex-Mann, der ebenfalls Arzt ist, eines Tages in der Toilette des Krankenhauses findet. Er hat sich ein Narkosemittel zur „Entspannung“ gespritzt und ist dabei zusammengebrochen. Als Anita den Vorfall bei einem Familienausflug mit Mann, Sohn und neuer Frau thematisiert kommt es zum Eklat, in dessen Folge Heidi versucht Anita aus dem Leben des Sohnes auszugrenzen.

Diese Ausgangssituation wäre spannend, würde sie im Roman dementsprechend ausgeführt. Es scheint jedoch, als hätte Magnusson alle Akribie, Genauigkeit und auch Leidenschaft allein auf die medizinischen Sachverhalte verwendet. Immer wenn es um die persönlichen Befindlichkeiten der Figuren geht, bleibt alles vage und oberflächlich, sachlich und nüchtern. Nach der ersten Liebesnacht mit Rio sortiert Anita erst einmal ihre Vitalfunktionen, als sich über Gefühle Gedanken zu machen. Und der „Zickenkrieg“ zwischen leiblicher Mutter und Ersatzmutter Heidi verdient diesen Namen nicht. Die Dialoge der beiden Frauen wirken hölzern. Hass und Feindschaft klingen für mich anders.

Ich habe den „Arztroman“ dennoch zügig zu Ende gelesen und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mich im Notfall ohne Zögern von Anita retten lassen würde. Aber auf ein Kaffeekränzchen mit ihr würde ich verzichten.