Beeindruckendes Debüt mit Luft nach oben

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throughmistymarches Avatar

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„Was ich in dem Moment spürte, war jedoch kein Verlangen, sondern die schwelende Spannung seiner Möglichkeit, ein Gefühl, dass scheinbar eine eigene Schwerkraft ausstrahlte und mich an Ort und Stelle fesselte.“
Der Lyriker Ocean Vuong beherrscht den Umgang mit Sprache virtuos. In seinem ersten, autobiografischen Roman wendet er sich in Briefform an seine Mutter, eine vietnamesische Analphabetin. Geboren 1988 in Saigon, kam er als Kleinkind mit Mutter und Oma in die USA. Als einziger in der kleinen Familie lernt er Englisch – Sprache spielt von frühster Kindheit an eine wichtige Rolle für ihn auf seiner Suche nach Identität. Bis ins frühe Teenageralter ist er der rohen Gewalt der Mutter ausgesetzt; viel schmerzhafter scheint jedoch der Ratschlag „Fall nicht auf, du bist schon vietnamesisch“ zu sein, der den Werdegang des jungen, queeren, vietnamesisch-amerikanischen Mannes begleitet. Spannend ist, das Vuong Sprache nun zu seinem Beruf gemacht hat und damit Kunst schafft. Ich kenne seine Gedichte nicht, bin mir nach dem Roman sicher, dass diese grandios sind. Äußerst gelungen finde ich zum Beispiel die regelmäßig wiederkehrende Metapher mit der Reise der Monarchfalter, mit der er immer wieder bildlich Migrationsthematiken unterstützt.
Manchmal jedoch ist es ein bisschen viel und wirkt ab dem 2. Teil des Romans etwas zu stark aufgetragen. Vuong setzt Erinnerungen zusammen wie ein Mosaik und während in Teil 1 die Gedanken-, Location- und Zeitsprünge funktionieren (auch dank der wunderbar wirren Gleichnisse der Oma), hat es mich später gestört. Thematisch wirkt hier die direkte Anrede der Mutter konstruiert (es geht teilweise sehr grafisch um sexuelle Erfahrungen). Hinzu kommen literaturgeschichtliche Einschübe, die dem ganzen passagenweise eine essayistische Wirkung verleihen. In Teil 3 funktioniert der Briefrahmen wieder besser, allerdings versucht Vuong nun scheinbar alle losen Enden zu vereinen, greift nochmals dutzende Metaphern auf, Erinnerungen, Gleichungen, springt zwischen den Jahrzehnen, den Kontinenten. Es wirkt aufgeplustert, weniger wäre hier mehr gewesen, um dadurch einigen virtuos herausgearbeiteten Sprachbildern mehr Kraft zu geben.
In all dieser Verwirrung spiegelt sich vielleicht auch einfach wieder, dass die Suche nach Identität und Sprache nach wie vor nicht abgeschlossen ist (und wenn wir ehrlich sind: dies ist eine Suche, die wir zeitlebens nicht abschließen, es fällt nur dem ein oder anderen leichter, mit den offenen Fragen zu leben).
Ein empfehlenswertes Romandebüt, dass dem jungen Autor allerdings noch Möglichkeiten offen lässt, sich zu steigern (wenn die Position als neues Literaturwunderkind, die ihm längst zugeordnet wurde, die Erwartungen nicht zu sehr in die Höhe treibt).