Worte von atemberaubender Schönheit

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meerbuecher Avatar

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“Ma, ich schreibe, um dich zu erreichen - auch wenn jedes Wort auf dem Papier ein Wort weiter weg ist von dort, wo du bist.” - So lautet der fulminante Einstieg in Ocean Vuongs autobiografischen Roman “Auf Erden sind wir kurz grandios” und bereits nach diesem Satz wusste ich, dass mich in diesem Buch eine großartige Sprachgewalt erwarten würde. Und so war es auch. Das Buch ist als Briefroman an die analphabethische Mutter gerichtet ist und bedient sich zahlreicher Erinnerungen des Autors, aber auch der seiner Großmutter. Man ist versucht, die Briefe als Anklage gegen die Mutter zu verstehen, da u.a. von Gewalt in der Kindheit und der großen Last des Analphabetismus die Rede ist, doch es entspricht eher einer Aufarbeitung der eigenen Erinnerung.

Das Buch ist in drei Teile unterteilt. Diese unterteilen sich nochmals in mehrere kurze Briefabschnitte, die je eine Erinnerung oder ein Erlebnis behandeln. Da liegt auch mein halber Punkt Abzug, da ich an manchen Stellen ein wenig verwirrt war, wovon gerade geredet wird, um wen es geht und in welchem Lebensabschnitt ich mich befinde.
Müsste ich die drei Teile je benennen, würde ich das wie folgt tun:
Eine Kindheit geprägt von Rassismus und Gewalt
Die Erkundung der eigenen Sexualität, der ersten Liebe und dem Rausch der Drogen im Heranwachsen
Der Umgang mit Verlust, Erinnerung und Sehnsucht und dem Loslassen

Der Roman ist gefüllt mit beispiellosen Formulierungen, die sich wie Honig ziehen und nach denen ich nicht selten einen kurzen Moment innehalten musste, um sie zu verarbeiten. Literarisch eine absolute Wucht, die ich nur jedem ans Herz legen kann, der poetisch angehauchte Allegorien, Aphorismen und Lakonie genießen kann.
Es geht um Rassismus und den Umgang damit, um Identität, Herkunft und die Erkundung der eigenen Wurzeln. Es geht um die erste Liebe und die Erkundung der eigenen Sexualität. Um Wahrheit, Nähe und Verlust. Selbsterkenntnis. Schönheit. Einfachheit. Hoffnung. Reue. Die Frage danach, inwieweit der Wortschatz einen Menschen formt und “funktionstüchtig” macht. Da ist von Tiger Woods die Rede und von der Hoffnungslosigkeit eines Nagelstudios. Von der Illusion des “American Dream”. Von dem brutalen Gesicht des Vietnamkriegs. Von Drogen und den Freunden, die sie mit sich nahmen. Von der Liebe zur Mutter und Großmutter und der Abwesenheit der Väter. Zartheit und Härte, Liebe und Gewalt, treffen auf so außerordentliche Weise aufeinander, dass es einem an mancher Stelle die Sprache verschlägt. Wo manche Sätze zu verschachtelt und metaphorisiert erscheinen, gibt es ebenso klare Formulierungen, die das Geschehen in aller Deutlichkeit beschreiben und keine Zweifel offen lassen.

Es fällt mir wirklich schwer, das Gelesene in Worte zu fassen und dem gerecht zu werden, also bleibt es mir nur 4,5 von 5 Sternen zu vergeben und mich für die Bereitstellung dieses Rezensionsexemplars zu bedanken!