Ein schleichender Weltuntergang

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„Auf See“ von Theresia Enzensberger ist auf den ersten Blick eine Dystopie, wie man sie aus Hollywood-Filmen kennt: eine jugendliche Heldin in einer Enklave auf dem Meer, die nach dem Kollaps der modernen Gesellschaft ein isoliertes Dasein fristet. Auf den zweiten Blick werden aber die vielen interessanten Ebenen offensichtlich, die die Autorin geschickt zu einem bewegenden und vor allem nachdenklich machenden Ganzen verwebt.

Die junge Yada lebt in der Seestatt, einer künstlichen Insel vor der Küste Deutschlands, die ihr Vater als futuristische Rettungsarche entworfen hat. An ihre Mutter kann Yada sich kaum erinnern, und auch sonst hat sie kaum persönliche Kontakte und schlägt sich mit Einsamkeit und Langeweile herum, die erst durchbrochen wird, als ihr Vater mit seiner Geheimnistuerei ihr Misstrauen weckt. Während Yada Nachforschungen anstellt, eröffnet ein zweiter Erzählstrang die bizarre Welt der alternden, immens erfolgreichen Künstlerin Helena, deren Werk aus dem Ruder gelaufen ist. Wie diese beiden Geschichten verknüpft sind, enthüllt das Buch erst nach und nach.

Der Zauber von „Auf See“ besteht in der Ernüchterung, die den geschilderten bahnbrechenden Ereignissen immer zugleich innewohnt. Die Seestatt ist kein High-Tech-Paradies, das noble Aussteiger auffängt, sondern ein langsam zerfallendes Experiment, das sich kaum allein auf den Beinen halten kann. Helena ist kein künstlerisches Ausnahmetalent, sondern rutscht zufällig und ungewollt in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Diese Nüchternheit setzt die Autorin auch mit Einschüben zu scheinbar unzusammenhängenden Berichten über die Welt- und Naturgeschichte fort, die nach und nach größere Zusammenhänge offenlegen. Mit oft zynischem Blick seziert Theresia Enzensberger die Schwächen der modernen Gesellschaft: den unbedingten Glauben an Innovation, den Wunsch nach Vernetzung und Anerkennung um jeden Preis, das ungesunde Verhältnis zur Natur und nicht zuletzt die schwindende Solidarität. Dabei entgleiten ihr jedoch manchmal ihre Charaktere: Trotz des intensiven Fokus auf zwei Protagonistinnen kommt man als Leserin nicht richtig an die Figuren ran. Das Buch ist insofern eher politisch als persönlich, und auch das Tempo leidet manchmal etwas unter der Ausgestaltung bestimmter Themenkomplexe. Nichtsdestrotrotz kann es damit durchaus überzeugen.

„Auf See“ ist ein politischer Roman, der viele gesellschaftliche Themen anschneidet und dabei nicht auf große Gesten und heldenhafte Charaktere setzt. Im Vordergrund stehen die großen Zusammenhänge und Entwicklungen, die seine Lesenden herausfordern und zum Nachdenken anregen. Eine lohnenswerte Lektüre!