Klug und weitsichtig
„Ich setzte mich auf das Dach meines Schlafquartiers in eine Mulde, schaute über die Seestatt hinaus aufs Meer und dachte über die Zukunft oder, besser gesagt, über die Wahrscheinlichkeit ihres Ausbleibens nach.“ (S. 11)
Als Yada sieben Jahre alt war, flüchtete sie gemeinsam mit ihrem Vater, einem libertären Tech-Unternehmer, auf die von ihm erbaute Seestatt vor der deutschen Küste. Hier sind die sicher vor dem Chaos, das das Festland ereilen sollte, und das Ende des Lebens, das sie bis dahin kannten, bedeuten sollte. VINETA, das ist die Zukunft: ein geschlossener Kreislauf aus eigens gewonnenem Strom und Nahrungsmitteln, produktiver Abfallverwertung, wissenschaftlichem Fortschritt. Ein Leben autark jedweder Regierung, aber kein Zuhause. Zehn Jahre ist das nun her. Zehn Jahre, in denen das Weiß der Oberflächen dem schlammigen Grün von Moos und Algen gewichen ist, immer mehr Menschen die Seestatt verlassen haben – und in denen Yadas Bewunderung für ihren Vater von Misstrauen und Zurückhaltungen überschattet wurde. Sie will mehr wissen, die Hintergründe des Projekts verstehen, das Ziel, das dahintersteckt, selbstbestimmt leben. Und: wissen, was mit ihrer Mutter geschah.
„Erinnerung, begreife ich, ist keine Frage der Anstrengung.“ (S. 29)
In Berlin fristen Helena, Kamille und August derweil zwischen Wolkenkratzern und Anonymität ein Leben im Schatten. Nachdem Helena vor einigen Jahren als „Orakel“ und Sektengründerin respektablen Ruhm erhielt, hat sie finanziell keine Sorgen. Sie zog sich aus der Öffentlichkeit zurück, gab alle objektivierbare Kontrolle über ihr Leben ab. Aber die Stimmen neoliberaler Gruppierungen werden lauter, die Armut kauert in jeder Ecke. Etwas muss sich ändern – drastisch.
Je ernster die wirtschaftliche Weltlage wird, je deutlicher die Zeichen des Klimawandels zutage treten, die Augen sich vor den Folgen, vor einer möglichen, unausweichlichen Zukunft nicht mehr verschließen lassen, desto mehr wünscht man sich einen Plan B herbei. Eine Möglichkeit, dem anthropogenen Untergang zu entkommen. Unglaublich klug und über allem das Menschliche, Weiche nicht verlierend, entwirft Theresia Enzensberger in „Auf See“ das Bild einer dem Untergang geweihten Seestatt, deren utopische Motivation allmählich zu einer Dystopie verfällt. Gebaut auf Geld und Einfluss, ist Vineta eine futuristische Art der Zweiklassengesellschaft: Während auf den Waben der Seestatt die überwiegend männliche, elitäre Neureiche und Wissenschaftler wohnen, treibt nebenher ein altes Kreuzfahrtschiff mit ausländischen Mitarbeiter*innen. Kinder gibt es auf der Seestatt nicht, sie sind Parasiten, wie Yadas Vater ihr einmal sagte. Freunde hat sie deswegen keine; sie wächst in einer sterilen, streng überwachten Umgebung auf, erhält wissenschaftlichen Unterricht via Videocall. Jeder Raum für Fantasie und Kreativität wird ihr unterbunden. Doch Yada nutzt jede Chance, die Allmacht ihres Vaters, seine Idee einer Utopie zu unterwandern und rebelliert. Enzensberger macht aus ihrer jungen Ich-Erzählerin eine Heroin, die für sich selbst einsteht, für ihre Zukunft, ihr Leben kämpft, die klug und gewitzt ist, gleichermaßen verletzlich wie zäh ist.
Aus einer auktorialen, etwas distanzierteren Perspektive hingegen tritt Helena auf den Plan. Ihr Leben ist eine andere Art der Dystopie, von den Zeichen der gesellschaftlichen Armut und neoliberalen Machthungers gezeichnet. Menschen leben auf den Straßen, in Autos, in Zelten, das Leben ist unbezahlbar, die Zukunft dunkelgrau. Während das World Building in Yadas Passagen großformatig, in bunten Farben und Details geschieht, liegt der Fokus in Helenas Passagen eher auf dem Innenleben der Protagonistin, auf ihrer Gegenwart und möglichen Zukunft. Nach und nach wird Helenas Charakter komplexer, mysteriöser, die Frage um ihre Vergangenheit lauter. Und die nach der Rolle des Archivs in ihrem Leben: Immer wieder lässt Enzensberger mosaikartig kurze, historische Texte zu Inseln, den Versuchen der Staatengründung und Landeroberung einfließen, deren Bezüge und Verknotungen mit den Handlungssträngen immer mehr zutage treten.
Die Klugheit, Komplexität und Sanftheit der Beschreibungen, die zugrundeliegende Gesellschaftskritik und die Einzigartigkeit der Idee haben mich gleichermaßen begeistert wie beschäftigt: Welche Zukunft wollen wir gemeinsam gestalten, wie wollen wir leben – ohne, dass Macht, Einfluss und Geld uns vorschreiben, wie wir es zu tun haben? Nicht immer fand ich mit Yada und Helena zusammen, war zwischenzeitlich genervt und fand den Plot stellenweise konstruiert und vorhersehbar, doch manchmal braucht man auch ein bisschen Zeit und Distanz, um das Gegenüber besser zu verstehen. Und so wirkte die Geschichte nach, veränderten sich meine Perspektive und die stürmische Seeluft tat ihr Übriges, mich wieder ins Boot zu ziehen.
Ein beeindruckend kluges, differenziert gedachtes Buch, das nachwirkt.
Als Yada sieben Jahre alt war, flüchtete sie gemeinsam mit ihrem Vater, einem libertären Tech-Unternehmer, auf die von ihm erbaute Seestatt vor der deutschen Küste. Hier sind die sicher vor dem Chaos, das das Festland ereilen sollte, und das Ende des Lebens, das sie bis dahin kannten, bedeuten sollte. VINETA, das ist die Zukunft: ein geschlossener Kreislauf aus eigens gewonnenem Strom und Nahrungsmitteln, produktiver Abfallverwertung, wissenschaftlichem Fortschritt. Ein Leben autark jedweder Regierung, aber kein Zuhause. Zehn Jahre ist das nun her. Zehn Jahre, in denen das Weiß der Oberflächen dem schlammigen Grün von Moos und Algen gewichen ist, immer mehr Menschen die Seestatt verlassen haben – und in denen Yadas Bewunderung für ihren Vater von Misstrauen und Zurückhaltungen überschattet wurde. Sie will mehr wissen, die Hintergründe des Projekts verstehen, das Ziel, das dahintersteckt, selbstbestimmt leben. Und: wissen, was mit ihrer Mutter geschah.
„Erinnerung, begreife ich, ist keine Frage der Anstrengung.“ (S. 29)
In Berlin fristen Helena, Kamille und August derweil zwischen Wolkenkratzern und Anonymität ein Leben im Schatten. Nachdem Helena vor einigen Jahren als „Orakel“ und Sektengründerin respektablen Ruhm erhielt, hat sie finanziell keine Sorgen. Sie zog sich aus der Öffentlichkeit zurück, gab alle objektivierbare Kontrolle über ihr Leben ab. Aber die Stimmen neoliberaler Gruppierungen werden lauter, die Armut kauert in jeder Ecke. Etwas muss sich ändern – drastisch.
Je ernster die wirtschaftliche Weltlage wird, je deutlicher die Zeichen des Klimawandels zutage treten, die Augen sich vor den Folgen, vor einer möglichen, unausweichlichen Zukunft nicht mehr verschließen lassen, desto mehr wünscht man sich einen Plan B herbei. Eine Möglichkeit, dem anthropogenen Untergang zu entkommen. Unglaublich klug und über allem das Menschliche, Weiche nicht verlierend, entwirft Theresia Enzensberger in „Auf See“ das Bild einer dem Untergang geweihten Seestatt, deren utopische Motivation allmählich zu einer Dystopie verfällt. Gebaut auf Geld und Einfluss, ist Vineta eine futuristische Art der Zweiklassengesellschaft: Während auf den Waben der Seestatt die überwiegend männliche, elitäre Neureiche und Wissenschaftler wohnen, treibt nebenher ein altes Kreuzfahrtschiff mit ausländischen Mitarbeiter*innen. Kinder gibt es auf der Seestatt nicht, sie sind Parasiten, wie Yadas Vater ihr einmal sagte. Freunde hat sie deswegen keine; sie wächst in einer sterilen, streng überwachten Umgebung auf, erhält wissenschaftlichen Unterricht via Videocall. Jeder Raum für Fantasie und Kreativität wird ihr unterbunden. Doch Yada nutzt jede Chance, die Allmacht ihres Vaters, seine Idee einer Utopie zu unterwandern und rebelliert. Enzensberger macht aus ihrer jungen Ich-Erzählerin eine Heroin, die für sich selbst einsteht, für ihre Zukunft, ihr Leben kämpft, die klug und gewitzt ist, gleichermaßen verletzlich wie zäh ist.
Aus einer auktorialen, etwas distanzierteren Perspektive hingegen tritt Helena auf den Plan. Ihr Leben ist eine andere Art der Dystopie, von den Zeichen der gesellschaftlichen Armut und neoliberalen Machthungers gezeichnet. Menschen leben auf den Straßen, in Autos, in Zelten, das Leben ist unbezahlbar, die Zukunft dunkelgrau. Während das World Building in Yadas Passagen großformatig, in bunten Farben und Details geschieht, liegt der Fokus in Helenas Passagen eher auf dem Innenleben der Protagonistin, auf ihrer Gegenwart und möglichen Zukunft. Nach und nach wird Helenas Charakter komplexer, mysteriöser, die Frage um ihre Vergangenheit lauter. Und die nach der Rolle des Archivs in ihrem Leben: Immer wieder lässt Enzensberger mosaikartig kurze, historische Texte zu Inseln, den Versuchen der Staatengründung und Landeroberung einfließen, deren Bezüge und Verknotungen mit den Handlungssträngen immer mehr zutage treten.
Die Klugheit, Komplexität und Sanftheit der Beschreibungen, die zugrundeliegende Gesellschaftskritik und die Einzigartigkeit der Idee haben mich gleichermaßen begeistert wie beschäftigt: Welche Zukunft wollen wir gemeinsam gestalten, wie wollen wir leben – ohne, dass Macht, Einfluss und Geld uns vorschreiben, wie wir es zu tun haben? Nicht immer fand ich mit Yada und Helena zusammen, war zwischenzeitlich genervt und fand den Plot stellenweise konstruiert und vorhersehbar, doch manchmal braucht man auch ein bisschen Zeit und Distanz, um das Gegenüber besser zu verstehen. Und so wirkte die Geschichte nach, veränderten sich meine Perspektive und die stürmische Seeluft tat ihr Übriges, mich wieder ins Boot zu ziehen.
Ein beeindruckend kluges, differenziert gedachtes Buch, das nachwirkt.