Wenn der Wunsch nach Freiheit zu Ausbeutung führt

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marga_pk Avatar

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Die 17-jährige Yada wächst in Seestatt auf, einer hypermodernen Selbstversorgerinsel in der Ostsee. Der Rest der Welt ist im totalen Chaos versunken und dem Untergang geweiht – so zumindest wird es Yada von ihrem Vater erzählt.
Doch irgendetwas läuft auf der Insel nicht so, wie es sein sollte.

Inzwischen draußen, in einem Berlin der Zukunft, in dem sich viele Menschen keine Wohnung mehr leisten können, während die Stadt für die Reichen zugebaut wird.
Weil ihre Spaß-Weissagungen per Zufall eingetreten sind, wird die Künstlerin Helena als Orakel gefeiert. Das bringt zwar Geld, aber Helena möchte lieber in Ruhe gelassen werden – nicht nur von ihren Fans, sondern auch vom Kunstbetrieb, der nur noch aus purem Aktionismus besteht. Für eine Art künstlerisches Forschungsprojekt gründet Helena eine sektenähnliche Gruppe. Doch als sie am Ende des Projekts die Gruppe einfach fallen lässt, nützt der profithungrige Arthur seine Chance.
Und dann gibt es Helenas Archiv. Darin findet man z.B. Einträge über New Atlantis. Oder auch über Darwins verheerenden Eingriff ins ökologische Gleichgewicht einer Insel. Oder einen Eintrag über die Anfänge der Scientology Sekte.

Enzensberger montiert diese 3 Stränge abwechselnd in kurzen Kapiteln aneinander. Wie ein Mosaik fügen sich die Teile nach und nach zu einem Gesamtbild – man ahnt schon vieles, und doch sieht das Bild ein wenig anders aus als angenommen.

Bis zur Hälfte des Buches war ich komplett angetan. Ich mochte die Perspektivenwechsel, durch die vagen Andeutungen kommt Spannung auf, ohne dass besonders viel geschieht – selbst die zwischengeschobenen Archiv-Kapitel sind so interessant, dass man die Handlung gerne unterbricht. (Ich habe stellenweise sogar zu googeln begonnen.) Gerade die Archiveinträge sind es auch, die das eigentliche Entsetzen auslösen, zeigen sie doch, was auf unserer Welt so alles möglich ist (#Sonderwirtschaftszone).
„Auf See“ ist weniger Thriller denn harte Gesellschaftskritik. Es geht um den Wunsch nach Freiheit auf der einen Seite und die totale Ausbeutung auf der anderen – und darum, wie das eine zum anderen führt, und das schon seit Jahrhunderten.

Enzensbergers flotter, schnörkelloser Erzählton hat mir großes Lesevergnügen bereitet, außerdem schätze ich es immer sehr, wenn Biografien knapp zusammengefasst und nicht ausufernd erzählt werden. Vor allem die Archiv-Einschübe fand ich großartig (denn sie haben sich tatsächlich gut in die Collage gefügt und dem Roman eine Tiefe verliehen).
Dennoch hat für mich die Dramaturgie in der zweiten Hälfte nicht mehr ganz so gut gepasst wie zu Beginn. Da werden auf den letzten Seiten neue Perspektiven eingeführt, die es für die Geschichte nicht unbedingt gebraucht hätte, während die Hauptfiguren immer mehr verblassen. Die Handlung steuert auf keinen Höhepunkt mehr zu, sondern wabert ein bisschen vor sich hin. Und manches, das ich noch gern gewusst hätte, bleibt leider unbeantwortet. Das fand ich schade, dennoch habe ich das Buch bis zum Schluss sehr gern gelesen. Das lag nicht nur an Yada und dem Archiv, sondern vor allem an Enzensberger Erzählton und dem Aufbau. Vor allem aber an dem Schockerlebnis, den das Archiv auslöst. Denn die Realität steht der Fiktion in punkto Grausamkeit um nichts nach.

„Auf See“ ist kein Buch, das man einfach zur Seite legt – sondern eines, über das man anschließend reden möchte. Und das ist gut so.